Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

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Squonk
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Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Squonk »

Eindrücke eines Steven Wilson-Neulings

Aarhus, 23. November 2013
Das TRAIN in Aarhus ist wahrscheinlich der angesagteste Musikschuppen in Dänemarks zweitgrößter Stadt. Ich war noch nie dort gewesen, ging aber spontan zusammen mit einer Freundin aus Italien hin. Wir konnten noch problemlos Tickets bzw. Stempel an der Abendkasse bekommen, da das Konzert nicht ausverkauft war. Trotzdem war der Laden ziemlich voll. Die Loaction ist etwas unübersichtlich mit nur einem kleinen freien Bereich vor der Bühne und nur leicht erhöhten Balkonen zu den Seiten, auf denen Tische und jeweils eine Bar stehen. Die Licht- und Soundtechnik saßen in einer Art Turm, in deren erster Etage ebenfalls ein Balkon mit Sitzplätzen und eine Bar eingerichtet waren. Das störte doch irgendwie die Konzertatmopshäre, war aber auf jeden Fall intim. Das Konzert war für 21:30 angekündigt und gegen zehn nach neun begann ein Video zu laufen, das auf die große Leinwand hinter die Instrumente projeziert wurde. Es zeigte eine städtische Backsteinmauer mit wechselnden Passanten. Irgendwann kam ein vermummter Musiker (Steven Wilson), packte eine Akustikgitarre aus und spielte den Porcupine Tree-Song Trains an. In diesem Moment kam der echte Steven Wilson auf die Bühne und spielte den Song live. An sich eine sehr schöne Idee, aber der Effekt wäre der gleiche gewesen, wenn das Video erst fünf Minuten vor Konzertbeginn begonnen hätte und nicht zwanzig Minuten vorher…

Nun kam der Rest der Band auf die Bühne – ein Schlagzeuger, ein Gitarrist, Steve Hacketts Gitarrist Nick Beggs sowie ein Tastenmusiker und ein Blasmusiker, der den Abend über verschiedene Flöten und Saxophon spielte. Ohne Ansage legten sie unmittelbar los mit Luminol, dem rund 13-minütigen ersten der sieben Stücke von “The Raven That Refused To Sing”. Viel Text hat das Stück nicht, dafür aber eine einprägsame Bassline und verschiedene wiederkehrende Patterns, die stellenweise ziemlich an Yes erinnern. Hat mir auf der Platte schon sehr gut gefallen, ist aber live natürlich noch druckvoller und als (Quasi-) Opener sehr gut geeignet. Mit Postcard folgte eine Ballade eines früheren Soloalbums von SW, die ich noch nie gehört hatte, meine Begleiterin aber sehr herbeigesehnt hatte und ziemlich glücklich war. Das Stück hat mir aber auch sehr gut gefallen. Unmittelbar danach spielten sie mit The Holy Drinker ein weiteres Stück vom “Raven”-Album. Auch dieses Stück ist über zehn Minuten lang und lässt Platz für diverse Soli. Der Gitarrist ist herausragend! Steven Wilson selbst wechselt während des Konzertes und während einzelner Stücke von Akustikgitarren zu E-Bässen und E-Gitarren und hat dazu auf dem Bühnenboden ein Keyboard mit Mellotron-Sounds stehen, das er scheinbar im Sitzen bedient (das habe ich nicht so gut sehen können). Zu seiner Erscheinung ist zu sagen, dass er aussieht wie der typische Nerd, der den ganzen Tag nur Progressive Rock komponiert: Total schlank, hager, schulterlange Haare, Standardbrille, Dreitagebart und barfuß.

Bisher hatte er nur “Thank you” gesagt, nach The Holy Drinker (das übrigens auch einen bombastischen ProgRock-Refrain erster Güte hat!) begrüßte er das Publikum aber mit einer längeren, rhetorisch ziemlich guten Ansage.
Zuerst wies er darauf hin, dass Szenenapplaus und Euphorie durchaus erwünscht seien und dass die Dänen doch versuchen sollten, einmal nicht skandinavisch zu sein – Er als Brite dürfte das sagen ;-) Ich empfand die Stimmung als ganz ordentlich, aber danach wurde sie wirklich euphorisch. Dann erklärte er, wie er als nicht-gelernter Musiker seinen Mitmusikern erklärt, wie sie seine Ideen in Musik umsetzen sollen. Er fragte nach dem Erzfeind der Dänen und bekam von etwa 80 Prozent der Anwesenden “THE SWEDE” entgegenbrüllt. Also sagte er zu seinem Gitarristen, dieser solle sich vorstellen, dass sich ein einsamer Schwede im Wald verirrt hätte, durch ein Telegramm erfahren hätte, dass ihn seine Frau und seine Kinder verlassen haben und dass dieser einsame Schwede im Wald nun von einem Troll bedroht werde. All diese fiktiven Elemente sollte die Gitarrist nach und nach in Töne auf seiner E-Gitarre umsetzen. Diese sehr unterhaltsame Ansage leitete mein Lieblingsstück ein. Drive Home handelt von einem lyrischen Ich, das bei einem Autounfall seine Ehefrau verliert und sich schließlich selbst umbringt. Diese Interpretation legt zumindest das (sehr sehenswerte) offizielle Video des Songs nahe, das auch auf die Bühnenrückwand projeziert wurde. Diese ziemlich düstere Ballade war das Highlight des Konzertes für mich.

Das nächste Stück sei ziemlich neu und solle deshalb nicht ins Internet gestellt werden, dürfte aber gerne gefilmt werden. Es sei ein langes Progressive Rock-Stück (Jubel) und hätte jeden Abend einen neuen Namen. Nach einem kurzen “Setlist-Vergleich” einigte man sich darauf, es an diesem Abend Regret Nr. 5 zu nennen. Stellenweise ging es in die Metal-Richtung, war aber ziemlich überzeugend. ProgRock ist toll, wenn derart fähige Musiker so vielseitige Instrumente auf eine Art und Weise verschmelzen lassen können, dass dabei eine so beeindruckende Soundkulisse entsteht! Die Band ging unter tosendem Applaus von der Bühne und ein transparenter Vorhang fiel vor der Bühne von der Decke. Darauf wurde nun ein Video gezeigt, das Uhren und einen Uhrenmacher zeigte. Passend dazu tickten in Pink Floyd-Manier über die Lautsprecher verschiedene Uhren. The Watchmaker ist ebenfalls vom “Raven”-Album und beginnt zunächst ziemlich ruhig, artet aber aus, wenn der Uhrenmacher seine Frau umbringt und im Garten verscharrt.

Der transparente Vorhing blieb weiterhin vor den Musikern hängen und SW kündigte mit verzerrter Stimme einen noch schrägeren Song an: Über einen Typen, der noch “abgefuckter” sei als der Uhrenmacher und Menschen sammelte. Das Stück heißt Index und ist eingängiger komponiert, aber nicht weniger schräg. Im Video wurden implizit menschliche Artfakte gezeigt, die wie Insekten gesammelten wurden. Es folgten zwei weitere mir nicht bekannte Stücke, die laut Internet Sectarian und Harmony Korine heißen. Letztes hat mir besser gefallen als ersteres. Es scheint so, als seien die älteren Stücke ‘härter’ und weniger melodisch, wobei ich gerade das verwunschene, romantische Element im ProgRock lieber mag. (Nicht umsonst gefallen mir die Genesis-Sachen in der Vierer-Besetzung ohne Peter Gabriel und noch mit Steve Hackett am besten.)

Das Konzert dauerte nun schon gut zwei Stunden und eigentlich war ich schon bedient. Auf Dauer ist diese Musik schon ziemlich anstrengend, wenn man nicht alles kennt und liebt. SW machte nun eine weitere Ansage, die den einsamen Schweden im Wald wieder aufgriff. Dieser habe nun auf der erfolgreichen Flucht vor dem Troll eine Lichtung gefunden, auf dem er ein seltsames Instrument entdeckt. Dieses Instrument, so SW weiter, feiere in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag. Das Publikum wusste gleich, dass das Mellotron gemeint war (Obwohl irgendwer “JFK” dazwischen rief, da sich die Ermordung Kennedys einen Tag vor dem Konzert zum 50. Mal jährte). Daraufin demonstrierten SW und sein Keyboarder die Sounds des Mellotrons. Meiner Meinung nach war es “nur” ein digitales Instrument und kein “echtes” Mellotron. Das Mellotron ist eine Art Keyboard, wobei es beim Drücken der Tasten entsprechende Tonbänder abspielt. Diese Tonbänder konnte man vorher bespielen, somit kann das Mellotron laut der allwissenden Wikipedia als Urform des Samples bezeichnet werden. Charakteristisch für das Genre des Progressive Rock sind die “Strings” und “Choir”-Samples (Streicher und Chöre), die in vielen klassischen ProgRock-Stücken bombastische Klangteppiche schufen. Einem Genesis-Fan fallen da natürlich sofort Stücke wie “Watcher Of The Skies”, “Supper’s Ready” oder “Afterglow” ein; zur Demonstration des “Choir”-Sounds des Mellotrons spielte der Keyboarder aber kurz “The Court Of The Crimson King” von King Crimson an, was das Publikum euphorisch aufnahm.

Der einsame Schwede hat also das Mellotron gefunden, experimentiert mit den Sounds herum und beginnt ein Stück zu schreiben, so SW weiter. In Anbetracht seiner Rettung entscheidet er sich, logisch, ein Stück über einen amerikanischen Serienkiller zu schreiben: Raider II. Noch nie gehört, aber bombastisch! Hat mir gut gefallen. Trotzdem war ich irgendwie dankbar, mit The Raven That Refused To Sing den nicht weniger depriminierenden Titelsong des aktuellen Albums als letzten Stück des Hauptsets zu hören. Somit wurde das “Raven”-Album bis auf den kürzesten Song komplett gespielt, was alleine schon die knapp 40 € für das Ticket gerechtfertigt haben. Darüber hinaus war es schön zu sehen, dass auch junge Menschen noch diese Art von Musik spielen und mit frischen und teilweise sehr guten Ideen mit Leben füllen. Da fühlt man sich als junger Mensch doch nicht so verkerht orientiert. Ohnehin waren viele Menschen in unserem Alter da – Deutlich mehr als in Deutschland zu solchen Konzerte gehen würden. Das mag aber auch daran liegen, dass der Gig in Aarhus das einzige Konzert dieser Tour in Dänemark war.

Nach einigen Minuten euphorischem Applauses kam die Band nochmal zurück und spielte mit Happy Returns einen eher optimistischen, fröhlicheren und leichteren unveröffentlichten Song. Als Zugabe natürlich nicht nur vom Titel her eine schöne Idee! Das letzte Stück des etwa zweieinviertelstündigen Konzertes war die alte Porcupine Tree-Nummer Radioactive Toy, die erwartungsgemäß sehr gefeiert wurde und dementsprechend auch etwas ausuferend zelebriert wurde. Passend zum Thema sah man etwa fünf Minuten lang Atompilze explodieren und Häuser von Druckwellen zerfetzen. Das erinnerte mich an den “In Concert”-Film von Genesis (1976), wo während der “Apocalypse” in “Supper’s Ready” ganz ähnliche Bilder gezeigt wurden. Irgendwie schließt sich ein Kreis…

Fazit
Es war es definitiv wert, auf das Konzert gegangen zu sein. Ich denke, dass ich mir auch ein neues Album kaufen würde, aber völlig fasziniert bin ich jetzt nicht. Meiner Meinung nach waren die besten Stücke des Abends die des aktuellen Albums, wobei ich Postcard und Index auch ziemlich gut fand.

Setlist
Aarhus, 23. November 2013

01. Trains (Porcupine Tree)
02. Luminol
03. Postcard
04. The Holy Drinker
05. Drive Home*
06. ‘Regret Nr. 5′ (neues Stück, das jeden Abend einen neuen Titel hat)
07. The Watchmaker
08. Index
09. Sectarian
10. Harmony Korine
11. Raider II
12. The Raven That Refused To Sing
-Zugaben-
13. Happy Returns (neues Stück)
14. Radioactive Toy (Porcupine Tree)

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Eric
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Eric »

Vielen Dank für den tollen Konzertbericht! :jc_doubleup: Deine Beschreibungen decken sich ziemlich mit meinen Erinnerungen an das Konzert in Bremen, bespnders bezüglich der Ansagen - und natürlich der identischen Setlist. In Bremen gab es noch mehr Beispiele für bekannte Mellotron-Passagen, unter anderem was von den Beatles (weiß nur nicht mehr welcher Song) und noch irgendwas (komplett vergessen :ohman: ), die allesamt Wilson persönlich "früher mal geschrieben" hatte :boys_lol: .

Wenn du die Songs vom Grace for Drowning Album vorher nicht kanntest, hast du dir ja ganz schön was zugemutet :biggrinn: . Ich persönlich finde das Album sogar noch stärker als den Raben, aber es braucht auch ein paar Umdrehungen, bis die Songs ins Ohr gehen. Der Song, bei dem der Vorhang fällt, heißt übrigens "Sectarian", hat also nichts mit einem Sekretär zu tun :mocking: .

Aber mein lieber Squonk, mit welcher "Blasphemie" du hier die Musiker vorstellst... :look_gif: :kez_15:
Das ist nicht ein Blasmusiker :boysaxophon: , das ist der große Theo Travis!

Das ist nicht ein Drummer, das ist der Frank Zappa Schlagzeuger Chad Wackerman!

Das ist nicht ein Tastenmusiker, das ist Adam Holzman, u. a. Keyboarder von Miles Davis!
Dio mio! Da hatte geklingelt die Telefon!
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Squonk »

Danke, lieber Eric, für Den Hinweis auf den richtigen (und wesentlich mehr Sinn ergebenden) Songtitel und die Aufklärung bezüglich der Musiker. Aber mal ehrlich: Woher soll ich die denn kennen? ;-)

Der Blasmusiker ist leider größtenteils untergangen, der Schlagzeuger hat mir aber sehr gut gefallen.
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SOON
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von SOON »

Ich habe Wilson nun auch schon zweimal Live erlebt und bin nach wie vor begeistert.
Das Konzert, in Aarhus, scheint unter recht beengten Verhältnissen stattgefunden zu haben.
Ich denke, die Kulisse und auch der Sound kommt nur in mittelgroßen Hallen voll zur Geltung.
Für Clubkonzerte ist diese Musik vielleicht nicht so geeignet.
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Squonk »

27. Nov 2013, 20:20 » SOON hat geschrieben:Ich habe Wilson nun auch schon zweimal Live erlebt und bin nach wie vor begeistert.
Das Konzert, in Aarhus, scheint unter recht beengten Verhältnissen stattgefunden zu haben.
Ich denke, die Kulisse und auch der Sound kommt nur in mittelgroßen Hallen voll zur Geltung.
Für Clubkonzerte ist diese Musik vielleicht nicht so geeignet.
Ja, das ist ein Club. Ich glaube auch, dass dort unter der Woche Disko-Veranstaltungen stattfinden.
Abgesehen davon, dass die Blasinstrumente im Mix eher untergangen sind, war die Akustik aber ziemlich gut.
Die Hugenottenhalle in Neu-Isenburg, wo er im März gespielt hat und für mich das nächste Konzerte gewesen wäre, ist aber auch nicht viel größer als das Train, hat aber eher die Atmosphäre einer Schulaula. Das Train ist da schon mehr 'Club', vielleicht wie die Große Freiheit in Hamburg (nur weniger gemütlich).
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Eric
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Eric »

Da möchte ich widersprechen. Das erste Mal habe ich Wilson in der Hamburger Markthalle gesehen, ebenfalls eine ziemlich kleine Location. Zu dem Konzert war ich spontan und ohne große Erwartungen gegangen - erst danach (bzw. dadurch) wurde ich zum Wilson Fan!
Dio mio! Da hatte geklingelt die Telefon!
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Re: Steven Wilson: The Raven That Refused To Sing (Aarhus, 23. November 2013)

Beitrag von Squonk »

Wie gesagt, ich war auch ziemlich begeistert. Ich glaube nicht, dass das in einer größeren Halle anders gewesen wäre. Es war aber schön, so nah dran zu sein. Speziell der Gitarrist ist von den Bier trinkenden Dänen ziemlich abgefeiert worden. Die Intimität war aus meiner Sicht kein Hindernis für die Wirkung der Lightshow, der Videos oder des Vorhangs. Nur das Einsteigsvideo war etwa 15 Minuten zu lang :biggrinn:
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