Keith Jarrett in Baden-Baden (09.07.10)

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Topographic
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Keith Jarrett in Baden-Baden (09.07.10)

Beitrag von Topographic »

Gestern (9.7.10 – werd ich nicht vergessen) erlebte ich mein bis dato merkwürdigstes (und teuerstes) Konzert: Keith Jarrett, begleitet von Gary Peacock (b) und Jack DeJohnette (dr) im Festspielhaus Baden-Baden. Musikalisch war das wie zu erwarten vom Feinsten, die Atmosphäre im Publikum aber mehr als angespannt.
Ich wusste ja von Jarretts Eskapaden bei seinen seltenen Konzerten (und er kam gestern eigentlich ohne aus) und wurde auch von einem geschätzten Forumsmitglied noch einmal vorgewarnt…

Der Leiter des Festspielhauses selbst, Andreas Mölich-Zebhauser, übernahm diesmal die Begrüßung des Publikums. Er habe vor 17 Jahren einen Zettel mit fünf Namen geschrieben, die er unbedingt verpflichten wollte – zwei Künstler sind inzwischen verstorben, zwei waren da und nun auch der letzte: Keith Jarrett.

Dann begann eine lange Liste mit Verhaltensregeln fürs Publikum. Handy sowieso, Fotografieren keinesfalls, auch nicht heimlich während des Applauses, es könne sein, Keith Jarrett würde dann einfach die Bühne verlassen. Ah, und der Applaus – bitte nur an den richtigen Stellen mit dem richtigen Gefühl, Sie verstehen schon… wir möchten ja alle eine Zugabe von Keith Jarrett und er sei sehr sensibel für die Art und Weise, wie das Publikum auf sein Spiel reagiere. Ah, und husten – keinesfalls, bitte, das müsse einfach gehen; Keith sei immer so vertieft in seine Musik, in einer anderen Welt, ein Huster könnte die ganze Konzentration, ja die ganze Improvisation zerstören – Keith sei daraufhin auch schon von der Bühne gegangen und nicht wieder gekommen. Ob wir denn noch einmal kollektiv Abhusten möchten vor dem Konzert. Dazu kam es aber nicht mehr – und auch nicht zum sicher geplanten „Begrüßen Sie mit mir den Gott der Improvisation…“. Denn ein sichtlich angefressener Keith stapfte ungefragt mit seinen Musikern auf die Bühne, strafte den Intendanten (der sich von der Bühne schlich) mit Verachtung, verbeugte sich kurz, nahm das Mikro und sprach seine fünf Worte, die für den ganzen Abend reichen mussten: „Too much talk! Music now!“

So recht klar war trotzdem noch nicht allen, wie die Benimmregeln für den Abend aufgestellt waren. Die erste Improvisation endete gleich mehrmals – doch immer fiel Keith noch etwas ein… das Publikum (aus ganz Europa angereist) wollte sich den Spaß aber nicht vermiesen lassen und applaudierte (anfangs noch fast enthusiastisch) bei jedem vermeintlichen Schluss. K.J. zeigte deutlich, was er von diesen Störungen hielt – oh je, die Zugabe schien schon jetzt in weite Ferne gerückt. Jedenfalls war nun klar – hier galten die Gesetze der Schwerkraft und andere Grundlagen, die das Gefüge der Welt zusammenhalten nicht. Gott selbst stand ja auf der Bühne.

Nach der zweiten Improvisation, immerhin in einige erkennbare Melodiebausteine eingepackt, herrschte im Publikum die pure Angst. Niemand, wirklich niemand, traute sich zu applaudieren, beinahe unerträglich die lange, lange Stille nach dem Werk – bis Gott lachte, ein Ausdruck von Häme, Verwunderung und Verletzung – was für ein dummes Publikum. Aber, wenn Gott lacht, dann darf man auch applaudieren (oder muss man – und wie sehr, wie lange, wie viel Emotionen dürfen darin sein?).
Dieses Spielchen zog sich den ganzen Abend hin (erster Teil 45 Minuten) – und wenn sonst bei Jazzkonzerten die Soli mit viel Applaus bedacht werden, wusste man hier nicht so recht, ob K.J das auch mochte. Er ließ eh kaum Raum dafür – wurde das Solo am Bass oder am Schlagzeug zu lang oder zu gut, legte er sich wieder in seiner einzigartigen Weise mit dem Kopf übers Klavier und fiel in seine Improvisationstrance, seine gelegentliche Schreie, die nach dem Maultier eines nahen Vergnügungsparkes klangen, waren sicher hohe Kunst– dabei sollte man den Meister auch sicherlich nicht stören.
Während des Applauses zwischen den Stücken wurde überall im Publikum die Chance ergriffen, sich ganz vorsichtig, verhalten und unauffällig unterdrückt zu räuspern oder gar in die Hände zu husten. Mich selbst packte ein heftiger Niesreiz (die Klimaanlage des Hauses), gerade als die Töne eher noch zu spüren als zu hören waren…schlimme und lange Sekunden, ja Minuten, wer möchte schon verantwortlich dafür sein, dass Keith die Bühne verlässt. Zum Glück war dann Pause – tiefes Durchatmen – und statt des kühlen Wassers musste ich mir ein beruhigendes Tannenzäpfle gönnen.

Nach der Pause ließ sich KJ ein einziges Mal dazu hinreißen, den riesigen Beifall durch ein Nicken über die Schulter Richtung Publikum zu würdigen, ansonsten durften wir seinem Allerwertesten applaudieren. Nach 40 Minuten war dann Schluss. DeJohnette wollte gerade zum nächsten Werk übergehen und war selbst überrascht – aber der Meister hatte plötzlich keine Lust mehr und seine beiden Musiksklaven waren natürlich hörig.

Also Schlussapplaus – aber etwas stimmte nicht. Trotz Verbeugung, KJ sah etwas grimmig drein und DeJohnette erst recht. Der trat dann einen Schritt hinter den Meister und bedeutete dem Publikum mit den Händen dezent aber gereizt, dass es nun bitte zum Applaudieren aufstehen müsse. Standing Ovations seien für Gott ja angebracht. Doch leider – der Funke war halt nie so übergesprungen…

Weg waren die drei und das Publikum klatschte noch minutenlang, obwohl das Saallicht schon an war, weiter (man hatte es dem Intendanten quasi zu Anfang versprochen)… niemand wusste so recht, was passieren würde, bis aus der Garderobe das Zeichen kam – Ende. Die Saaltüren wurden geöffnet, das Publikum machte sich auf den Weg – dann kam der Tontechniker zurück auf die Bühne, machte ein paar zweideutige Zeichen zum Publikum – hätten wir des Meisters Weigerung einfach nicht ernst nehmen und weiterklatschen sollen? – also nochmals von vorne, aber dann – Kopfschütteln – zu spät, wir waren der Zugabe nicht würdig.
Das anschließende 50-minütige Warten im Parkhauschaos war dann deutlich entspannter als die musikalische Begegnung mit Gott.

Trotzdem – ich bereue keine Minute – so was bekomme ich wohl nicht mehr geboten. Aber Keith Jarrett live –einmal im Leben ist genug. Meinte auch mein Freund, ein absoluter KJ-Jünger…

Ganz entspannt aber lässt sich diese großartige Musik so genießen:

[youtube]y78bcY_4NFI&feature=related[/youtube]

BBQ.Master
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Re: Juli 2010

Beitrag von BBQ.Master »

Im Gegensatz zu Jarrett wirkt Fripp ja wie ein Sonnenschein! :lol:
"It's better to burn out than to fade away ...because rust never sleeps." - Neil Young

Bild

DocFederfeld
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Re: Juli 2010

Beitrag von DocFederfeld »

Vielen Dank für die ausführliche und witzige Kritik. Vor drei Jahren hatte ich Tickets für ein Solokonzert von Jarrett in der Alten Oper in Frankfurt, habe die aber wieder verkauft, als ich so viel über seine Allüren gelesen hatte. An dem besagten Tag war ich übrigens fürchterlich erkältet und daher war es vielleicht besser so - ich wäre ungern an einem vorzeitigen Ende des Konzertes schuld gewesen. Wer weiß, wie die anderen Konzertbesucher darauf reagiert hätten :lol:

Vergangenes Jahr habe ich Chick Corea solo gesehen - der ist mir zwar aufgrund seiner massiven Werbung für Scientology suspekt, er kam aber total entspannt und nett rüber und hat zwischen den Stücken sehr viel geplaudert. Das war ein sehr guter Auftritt gewesen.

Jarrett scheint wirklich ein merkwürdiger Kauz zu sein, denn andererseits gehört er sicher zu den wenigen Jazzmusikern der Gegenwart, die finanziell ausgesorgt haben. Warum spielt er dann live? Und warum tun sich das Jack DeJohnette und Gary Peacock an, die ebenfalls zur Creme de la Creme gehören?
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Aprilfrost
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Re: Juli 2010

Beitrag von Aprilfrost »

Wunderschöner Konzertbericht. Da wär ich gern dabei gewesen. :lol: Da Jarretts Musi etwas Besonderes ist, denkt er wohl, er müsse auch besonders sein.

Royale
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Re: Keith Jarrett in Baden-Baden (09.07.10)

Beitrag von Royale »

Cool, das hab ich noch nie probiert, Beiträge auszuschneiden und zu einem neuen Thema zu bündeln :lol:


Aber Topos Bericht war es wert - Danke dafür! :)
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