Rezension Genesis Album: Foxtrot

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JJG
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Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von JJG »

Das Jahr 1972 kann wohl als eines der bedeutendsten Jahre für den so genannten Art/Prog-Rock gelten. Viele Bands, die diesem Genre zugeordnet werden, haben in jener Zeit ihre Meisterwerke abgeliefert. Es war auch eine Ära, in der die Songs nicht nur Songs waren, sondern sich zu Open ausweiteten.

In den Vorjahren gab es ja schon Stücke, die sich bis zu 20 Minuten Länge ausdehnten oder noch darüber lagen. Dennoch ist die Länge eines Songs nicht der Beweis für eine gute Qualität. Der Rock hatte sich aber gerade mit diesen Epen aus der „Schmuddel-Ecke“ der primitiven oder einfachen Musikrichtung befreit. Als Beispiele mögen hier Werke wie“ Atom Heart Mother“ (1970 – Pink Floyd), „Tarkus“ (1971 – Emerson, Lake and Palmer) oder auch „Thick As A Brick“ (1972 – Jethro Tull) genannt sein, die dieses eindrucksvoll unterstreichen.

Daneben gab es noch andere Realitäten. Die drohende „Apokalypse“ der Welt war eine davon. Und sie wurde von Künstlern wahr genommen und unterschiedlich interpretiert. 1979 gab es den Film „Apocalypse now“, 1974 hatte die Jazz-Rock Formation Mahavishnu Orchestra ein ganzes Album „Apocalypse“ benannt, im September 1972 gab es den Untertitel „The Apocalypse“ in der vierteiligen Suite „And You And I“ auf dem „Close To The Edge“ Album von Yes und einen Monat später die „Apocalypse in 9/8“, als Teil des Stückes „Suppers Ready“ von Genesis, auf dem Album

Foxtrot
Biographen und Autoren wie z.B. Dave Bowler und Bryan Dray, die in mühevoller Kleinarbeit etliche wertvolle Details über Genesis zusammen getragen haben, wollen aber genau in dieser Band kein Ensemble sehen, welches dem sogenannten progressiven Rock zugeordnet werden kann. Und in zwei Punkten muss man ihnen auch völlig Recht geben. Erstens sind Begriffe wie Art-Rock, Progressiv-Rock oder auch Symphonic-Rock keine Erfindungen der Bands selbst, nein vielmehr derjenigen, die sie in eine Schublade stecken möchten. Zweitens sind genau diese Bands auf ihre Art einzigartig und auch in gewissen Punkten nicht miteinander vergleichbar, oder stehen gar in einer gewissen Hierarchie, obwohl manche Fans, der jeweiligen Bands, das wohl gerne sehen würden.

Genesis haben mit ihrem Album „Foxtrot“ einerseits einen Höhepunkt in ihrem Schaffen gesetzt, andererseits wohl auch den Durchbruch auf dem europäischen Festland erreicht.

Die Platte beginnt mit dem düsteren, weltbedrohlichen Mellotronklang, welches „Watcher Of The Skies“ einleitet, dazu ein stampfender Bass-Rhythmus von Mike Rutherford, der durch die Orgelakkorde durchbrochen wird. Gerade dieser Song sollte sich in den folgenden Jahren für die Band zu einem genialen Opener entwickeln. Der Text vom „Wächter der Himmel“ wurde bis zur Fertigstellung mehrmals verändert, bis er Peter Gabriel gefiel. Schon in diesem Song wird eine “Apokalypse” heraufbeschworen. „This is the end of mans long union with earth“ heißt es in einer Textzeile. Gabriels Texte erscheinen wie surrealistische Geschichten, die in ihrem Kern aber sehr oft einen alltäglichen Bezug haben. Den „Wächter“ dieser Geschichte kann man mit der „Menschheit“ selbst ersetzen.

Der Wunsch nach Gerechtigkeit wird auch im folgenden Song „Time Table“ fort geführt. Hier, dem Text entsprechend, in eine Mittelalter-Ballade. Tony Banks spielt dazu eine Piano-Melodie die bizarr beginnt und im Mittelteil und Schlussteil sehr zerbrechlich wirkt und durch Peters Gesang noch verstärkt wird. Die restlichen Instrumente werden sehr sparsam eingesetzt und dienen mehr als Support um dem Song nicht seine eigentümliche Stimmung zu nehmen.

Get’em Out By Friday“ ist die Geschichte um die herrschende Wohnungsnot und die damit verbundenen Immobiliengeschäfte einiger korrupter Firmen in England. Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn er daraus nicht noch eine düstere Vision über die drohende Entwicklung in diesem Wirtschaftsbereich machen würde und gleichzeitig noch einen Seitenhieb auf die typisch englische Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Kirche austeilt. Gabriels Vater hatte zu dieser Zeit schon eine Art Kabelfernsehen entworfen und dafür macht Peter auch noch ein wenig Schleichwerbung. Der Song selbst ist nicht so spektakulär und eine Instrumentalpassage findet man im Mittelteil. Das Werk könnte sicherlich auch als Theaterstück aufgeführt werden, es überträgt genau diese Stimmung auf den Zuhörer. Den auftretenden Figuren wird jeweils eine Melodie zugeordnet und Gabriel versucht verschiedene Stimmen, dem Charakter entsprechend, zu imitieren.

Als Lehrstück, in Sachen Akkordspielweise auf akustischen Gitarren, kann das eher wenig beachtete Stück „Can-Utility And The Coastliners“ gelten. Die anfängliche Zurückhaltung des Stückes und akustische Ausrichtung im Intermezzo wird durch Zufügung des Mellotrons und der Orgel zu einem großartigen Kunstwerk ausgearbeitet. So schließt sich der Kreis der ersten Plattenseite, denn „Coastliners“ könnte sich auch nahtlos an „Watcher“ anfügen.

Hier zeigt sich auch das Manko mancher CD-Veröffentlichungen. Das CD-Format kann leider nicht die Stimmung der LP, besonders die visuelle Umsetzung des Covers wieder geben. Ein Album wie „Foxtrot“ muss immer als Gesamtkunstwerk gesehen werden, sonst wird es verstümmelt. Das kann durch die angekündigte Box geändert werden.

Die zweite Plattenseite wird durch eine der schönsten Solo-Gitarren-Melodien eingeleitet. Nicht nur hier ist erstaunlich, dass alle Mitglieder als Komponisten aufgeführt werden. Steve hat „Horizons“ im Alleingang geschrieben. Die Mitglieder haben sich früher darauf geeinigt alle an den „Credits“ aller Songs zu beteiligen, weil man die besten Ideen auf die Platten bringen wollte, unabhängig davon, wer sie beigesteuert hat. Ein Umstand, der später für Irritationen und Problemen führte und ab „Trick Of A Tail“ keine Anwendung mehr fand. Steve Hackett hat sich mit seiner Kreation in den „Gitarren-Olymp“ der Gitarristen gespielt und wird bis heute zu eben diesem gezählt.

Auch bei Genesis sind die Egos innerhalb der Band aufeinander geprallt. Sie waren jedoch so clever diese Reibereien nicht in der Öffentlichkeit oder in Interviews heraus zu stellen. Dennoch war der demokratische Prozess ausgeprägt. Tony Banks: „Bei der Durchsetzung meiner Ziele konnte ich manchmal recht fies werden“. Das beweist, dass Genesis auch „nur“ Musiker sind, die keine Götter verkörpern und durch menschliche Eigenschaften geprägt sind.

Fulminanter Schlusspunkt des Albums war natürlich der, nicht nur von den Fans erwartete, Longtrack. Wie die meisten Großwerke der Bands aus vielen kleinen Ideen entstehen, war das natürlich auch bei Genesis‘ „Fertigem Abendmahl“ nicht anders. „Supper’s Ready“ ist bis heute das Magnus Opus der Band geblieben. Kernstück und Auslöser, dieses opulenten Werkes, war die Selbsterfahrung Gabriels und dessen Ehefrau Jill, die jeweils verschiedene Gesichter im Partner gesehen hatten. Die Instrumentalleistungen der Musiker können hier voll überzeugen. Selbst das, auf den anderen Stücken, eher zurückhaltende Schlagzeug-Spiel vom Meister Collins, kann überzeugen. Banks liefert wie immer einen Hauptanteil für das Album und kreiert durch die verschiedenen Tasten-Sounds das „Bett“ für die restlichen Instrumente und den Gesang. Die Auflösung der „Apokalypse“ erfolgt dann im letzten der sieben Teile und wird im neuen Jerusalem herauf beschworen.
Im Zeitraum der Veröffentlichung von „Foxtrot“ erschien noch die Single „Happy The Man“, die weniger Beachtung fand, als das grandiose Album.

Genesis hatten ein Gesamtkunstwerk geschaffen, welches ihnen zum endgültigen Durchbruch in der Musikszene verhalf. Peter Gabriel verfeinerte seine Bühnenshows auch dadurch, dass er in die Rolle der Füchsin schlüpfte und dafür das rote Kleid seiner Ehefrau anzog und so in den Mittelpunkt der Shows rückte.

Mit den Song-Texten, Zitaten und Anspielungen begann Peter eine Art Schnipsel-Jagd für die Fans, die in den Folgejahren eine vollständige Deutung aller Lyrics erreichen wollten. Manchmal ist aber eine Note nur eine Note, ein Wort nur ein Wort, oder ein Lächeln eben auch nur ein Lächeln und sonst nichts.

Das Plattencover von Paul Whitehead widerspiegelte Text- Ausschnitte aus dem Album-Songs von „Foxtrot“ und Anspielungen auf das Vorgänger-Album und kann ebenfalls als Puzzle gedeutet werden.
Die Rockgeschichte wurde mit „Foxtrot“ um eine weitere Perle bereichert.
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

Saaldorf

Günes
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Günes »

Jepp, volle Punktzahl!
SGE!
Alles andere ist würg, ok, der FSV ist auch noch in Ordnung, immerhin bin ich Bornheimer und als solcher liebt man die Eintracht und den FSV. überhaupt ist Bornheim der beste Ort unter Gottes Sonne. Ihr zweifelt? Zweifelt nicht!
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Aprilfrost
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Aprilfrost »

Es heißt, dass das Beatles-Album "Sgt. Peppers" als wesentlicher Meilenstein für die Rockmusik gilt. Ich bin geneigt, "Foxtrot" als wesentlich für den Prog-Rock zu bezeichnen.

Jaja, natürlich gibt es noch das eine oder andere Album. Aber in dieser Verbreitung?

Max
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Max »

Hervorragende Platte. Mit Watcher, Get 'Em und Supper's Ready sind hier drei absolute Meisterwerke drauf, und die anderen Stücke sind ebenfalls sehr gut, wenn auch nicht so beeindruckend. :)

Ein deutlicher Sprung vom etwas unausgegorenen "Nursery Cryme". :)

Royale
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Royale »

Wenn Foxtrot ein Meilenstein des Prog ist, dann ist JJGs Rezension ein weiterer* Meilenstein der Musikliteratur.
Da merkt man, dass ein Fachmann und Musikliebhaber am Werk war, der darüber hinaus gut schreiben kann.



*wir haben hier im Forum ja schon so viele großartige Besprechungen!!!
Leb in meiner Welt

Fragile
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Fragile »

"Foxtrot" ist bei mir erinnerungstechnisch sehr positiv besetzt: Sommerferien im Jahr 2000 auf dem Land und das war damals quasi mein Soundtrack dazu. Auch wenn es meinen Top 5 nur auf dem letzten Platz hinter "Trick", "Abacab", "Selling" und "We Can't Dance" liegt, ist es eine von mir immer wieder sehr gern gehörte Scheibe.

Wer sich übrigens für noch mehr Hintergrundinfos zu "Foxtrot" interessiert, dem sei dieser Link empfohlen:

http://www.genesis-fanclub.de/c-Genesis ... -s224.html
He's seen too much of life,
and there's no going back...

Der Teemeister
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Der Teemeister »

Sehr gute Rezension, Kompliment. Immer wieder unfassbar, dass das
Almum 1972 nur mäßig beachtet wurde, Genesis nahe am Aufgeben waren.
Meine Hitparade der Alben variiert von Jahrzehnt zu Jahrzent, zur Zei sieht
es so aus:

01. TRESPASS
02. THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY
03. WIND & WUTHERING
04. FOXTROT
05. DUKE
06. A TRICK OF THE TAIL
07. SELLING ENGLAND BY THE POUND
08. NURSERY CRYME
09. INVISIBLE TOUCH
10. AND THEN THERE WERE THREE
11. FROM GENESIS TO REVELATION
12. ABACAB
13. GENESIS
14. WE CAN'T DANCE
15. CALLING ALL STATIONS

number nine
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von number nine »

Coastliners ist sicherlich kein epischer Song und trotzdem stecken darin alle Elemente des klassischen Progrocks drin. Foxtrot ist ein Hammeralbum und wird oft unterschätzt (klammert man Suppers Ready mal aus). Genesis haben mit Foxtrot, Nursery Crime und Selling England drei Alben geschaffen, die untrennbar mit dem Begriff Progressive Rock verbunden sind.

Coastliners und Cinema Show zählen zu meinen liebsten Genesis-Songs.
Hate takes a lot of energy - and i'm savin' mine up for all the good shit that's comin' my way 'cause i'm a good person and i deserve good shit in my life.

Member Z
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Member Z »

Der DD (Daily Dog) hat sich am letzten Freitag auch mit SR beschäftigt.
Hier seine Reaktionen, als Klassik-Komponist wie immer mit besonderem Bezug zur Musik-Theorie.

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Tom Bola
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Re: Rezension Genesis Album: Foxtrot

Beitrag von Tom Bola »

Das Publikum bei den live Aufnahmen aus diesen Jahren war wie "paralysiert". Heute haben wir natürlich über die Jahre "Supper`s Ready" oder "Musical Box" 1000x gehört ;) .... und mindestens 100x live :good: ....von den tollen Coverbands. Man kann sich gut vorstellen wie die Wirkung damals war.

zum Beispiel hier bei 6,45 min. - 7,50 min.





Viele Grüße
Diese Platte enthält keinen Hinweis auf die Supergruppe Silchers Rache :biggrinn:
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