[REVIEW] Refugee -Live in Concert- Newcastle Hall 1974

feat. Moraz
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Max
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Registriert: So 20. Mai 2007, 13:00

[REVIEW] Refugee -Live in Concert- Newcastle Hall 1974

Beitrag von Max »

Noch nichteinmal ein Jahr lang hielt die Progsupergroup Refugee, bestehend aus Ex-Mainhorse-Keyboarder Patrick Moraz, Ex-Nice-Bassist/Sänger Lee Jackson und Ex-Nice-Drummer Brian Davison...
Ende 1973 wurde sie gegründet, Mitte 1974 wegen Misserfolgs durch Patrick Moraz aufgelöst; der ging lieber zu Yes und tourte mit denen, bevor er dort auch rausgeworfen wurde.
Aber gottseidank ist den Proggies 1974 ein ganzes Album mit zwei funkig-proggigen, keyboardgeladenen Instrumentals, zwei epischen Proglongtracks und einer halbgaren Ballade mit krächzendem "Bonnie K."-Gesang von Jackson (aber nur auf diesem Lied) geblieben - leider wurde dieses Album erst wesentlich später wiederentdeckt, wurde aber nie in Mengen verkauft. Warum? Wahrscheinlich wegen des miesen Covers, das eher zu einem Discoalbum passen würde.
Es hätte gutes neues Material gegeben, und es wären noch ein paar Alben entstanden. Mehr Alben aber eher nicht - die Zeit des Punks stand bevor.
2006 geschah dann aber ein Wunder: Brian Davison entdeckte, als er mit einem Herren von Voiceprint auf der Suche nach Livematerial von THE NICE war, eine alte Kassette mit einem nicht ganz kompletten Refugee-Konzert... der Herr von Voiceprint war ganz verrückt darauf und brachte es bereits April 2007 frisch remastered heraus. Und so entstand das Album

Live in Concert - Newcastle Hall 1974,
das ich hier rezensieren will.


Direkt schon am Anfang hört man, dass die Remaster-Menschen gute Arbeit geleistet haben... der Klang ist klar, druckvoll und sauber, obwohl ein leises Rauschen zu bemerken ist. Das stört aber nicht... jetzt geht es dem Hörer eher um die Musik.

Das Outro ist in Wirklichkeit die zweite Hälfte vom funkigen Ritt Mickley, das es auch schon auf dem Studioalbum zu hören gab. Den "Gatecrasher" gibt es hier nicht, es wird mitten im Keyboardsolo von Moraz eingeblendet, es geht also nicht so viel verloren. Dann wechselt er zur Hammond, dann kommt der barocke, fanfarenartige Part, live ohne Clavichord, Moraz hat live eben auch nur 2 Hände. Sonst wird das ganze aber gekonnt und gut rübergebracht - die drei haben keine Probleme das komplexe Studiomaterial auf der Bühne rüberzubringen. Sehr schön und sicher, auch wenn nicht komplett: 4/5 Punkten.

Weiter geht es mit One Left Handed Peter Pan, das mit plingendem E-Piano beginnt und auf das zweite Album geraten sollte. Durch krachenden Bass, Hammondorgel, eine Akkordfolge aus Dur und Aug-Akkorden und einen jazzigen Rhythmus wird Spannung aufgebaut, bis Jackson beginnt, zu singen. Einige mögen dieses "Gekrächze", wie sie es bezeichnen, als störend empfinden; ich finde aber, dass es gut zu dieser eher rohen Musik passt. Was mich aber auch stört, ist, dass er einige Töne nicht trifft... macht aber nicht viel kaputt, denn dafür gibt es einen tollen Instrumentalteil mit genialem Synthesizer, Hammondorgel und gekonntem Bassspiel - der athmosphärische Gesang erzeugt hier Gänsehaut. Ein erhebender Moment! Jetzt ist Jackson eingesungen und es klingt bei der zweiten Strophe gleich viel besser. Nach einem weiteren Synthesizersolo beginnt ein Schlagzeugsolo, das wieder sehr an "Realization" von Nice erinnert. Dezente arhythmische Schläge mit Echo, die irgendwann zu einem richtigen Pattern werden, das nach einer Minute Solo wieder zum Hauptteil zurückführt. Jetzt soliert Moraz wieder am Synthesizer - und Jackson wiederholt wieder den athmosphärischen Gesangsteil. Jeder Ton sitzt exakt - auch wenn Jackson einige Probleme mit dem Gesang hat. Da hätte er etwas mehr üben sollen. Trotzdem ein toller Progtrack - Longtrack noch nicht, dafür ist er mit seinen zarten 9 Minuten zu kurz. Im Studio hätte es sicher deutlich besser geklungen - da haben Refugee eine Chance verpasst. Dennoch ist die Liveversion auch ein Juwel eines unveröffentlichten Refugee-Tracks... gut, wegen des Gesanges aber "nur": 4/5 Punkten.

Jetzt wird eine alte Psychedelicnummer von The Nice, die Diamond Hard Blue Apples of the Moon "eingeproggt". Nach bombastischem Hammondauftakt kristalliert sich aus den schnellen Hammondlinien das orientalische Hauptriff heraus, das nicht mehr von der Trompete (wie bei NICE), sondern von Moraz' ARP Synthesizer gespielt wird. In alter Nice-Manier rocken die drei los, Jackson singt sehr aggressiv - da passt seine Stimme wieder perfekt hin.
Da man das Stückchen ja kennt, schaut man sich mal das Booklet an: da findet man ein paar Bildchen der drei auf der Bühne, diverse Zeitungsartikel (die teilweise zum Lesen aber zu klein sind) und die Geschichte von Refugee - und des Albums. Auf einem Bild sieht man Moraz mit einem Alphorn... aber was dieses Alphorn soll, erfährt man erst später.
Auf dem CD-Deckel erkennt man dann, dass "Diamond" 7 Minuten lang ist, während das Original eine Länge von 3 Minuten aufwies. Da muss sich etwas getan haben; hat es sich auch: nun setzt ein funkiges Clavichord ein, das schön perkussiv zum Rhythmus von Jackson und Davison soliert. Jetzt spielt er mit der anderen Hand auf dem Synthesizer - "Unabhängigkeit der Hände", wie man sie im Keyboardunterricht übt, in Perfektion. Jetzt geht es wieder zu Synthesizer und Hammond, Jackson darf endlich wieder singen. Jetzt kommt zur Hammond ein Mellotron hinzu, das Akkorde zu den Variationen auf dem Hauptthema dazusetzt. Dann ist das große Kino vorbei, nachdem sie eine Menge an tollen Sachen aus dieser unscheinbaren Popnummer herausgezogen haben. 5/5 Punkten.


Ich hatte schon befürchtet, dass Someday vom Studioalbum auch live gespielt wurde und auf dem Album ist; aber so schlimm ist es hier garnicht - zwar aggressiv, aber ganz gut gesungen. Der, der hier Punkte verschenkt ist nicht nur Jackson, sondern auch Moraz, der an einigen Stellen falsche Akkorde spielt und dessen Synthesizer gewaltig verstimmt ist.
Ich hätte fast 4/5 Punkten gegeben, bleibe aber doch bei 3/5 Punkten - bei besserem Gesang und besseren Keyboards wären sogar 5 Punkte herausgesprungen, da die Idee wirklich eine vorzügliche ist.

Dafür geht es wieder sehr gut weiter mit Moraz' Solostück Papillon vom Studioalbum; mit schnellem Rhythmus und diversen Geräuschen der Analogkeyboards - hauptsächlich krumme Mellotronklänge, Hammondlinien und Synthesizertöne. Der Anfang ist aber eher bombastisch - mit Hammondorgel, Bass und feurigem Schlagzeug. Erst nach 2 Minuten wird es psychedelisch mit Mellotron, Hammondlinien und leisem, aber spannenden Schlagzeugrhythmus; man hört den Schmetterling (frz.: Papillon) praktisch umherflattern. Nun gibt es Plop- und Fiepgeräusche vom Synthesizer zu Hammondgeräuschen, dann setzt das Schlagzeug wieder ein - und die Mellotrongeräusche. Nach diversen anderen Spielereien, Van-der-Graaf-Generator-Geräuschen (ich meine das Gerät) und geigenartigen Synthesizergeräuschen zitiert Jackson am Bass die "Karelia Suite" mit dem Geigenbogen - wie 6 Jahre zuvor bei Nice.
Jetzt wird das Hauptthema wieder angespielt, mit Hammond, Bass und Schlagzeug. Und so ist nach 7,5 Minuten dieses spannende Stück vorbei. 5/5 Punkte - Genialer Keyboard-Prog.
Nun geht es wieder in Nice-Gefilde zurück: die spannende Adaption von Bob Dylans Bluessong She Belongs To Me, deutlich schneller gespielt, ein tolles "Vehicle" für Lee Jackson am Mikro und Bass. Allerdings unterscheidet sich die Refugee-Version kaum von der Nice-Version: nur Jacksons Bassspiel ist über die Zeit gereift: schnelle, gekonnte Basslinien werden gespielt, während Moraz sanfte Hammondtupfer dazusetzt. Dann: die Blues-Explosion mit brachialem Gesang, bevor es wieder ruhiger wird. Dann wird es wieder kurz lauter, dann wieder schlagartig leise. Daraufhin wird es wieder brutal, bevor gekonnt improvisiert wird. Weiterhin schneller Rhythmus, wozu Moraz soliert - und dieses Solo klingt deutlich anders als das Emerson-Solo, was der Refugee-Version ihre eigene Note gibt. Dann wird es wieder ruhiger, mit leisem, krachenden Bass und Hammondorgeltönen, bis es wieder immer lauter wird, doch es bleibt instrumental - jetzt kommt noch Synthesizergequake dazu, dazu spielt Davison eine Art Schlagzeugsolo. Das ganze wird schneller, lauter, verrückter, aggressiver und endet nach einem tiefen Synthesizerton wieder im Applaus des Publikums. Wieder 5/5 Punkten für einen Stück mit einem monströsen Spannungsauf- und -abbau.

Bei der Grand Canyon Suite vom Studioalbum braucht Herr Moraz Hilfe vom Roadie - Moraz muss nämlich gleichzeitig zwei Instrumente spielen: mit der einen Hand die Hammondorgel, mit der anderen muss er das Alphorn, dessen Spiel er - als Schweizer - als Kind erlernt hat, an den Mund halten, während der Roadie - auf dem Boden liegend, das meterlange Rohr stützt. Jackson bedient seinen Bass mit dem Geigenbogen; dann geht Moraz wieder zum Mellotron, um dort mit der Mellotronflöte eine Fanfare zu spielen, dann wieder zurück zur Hammond und dem Alphorn. Jetzt setzt das Schlagzeug ein - und die Fanfare wird vom Synthesizer übernommen. Wie gewohnt geht es weiter, nur deutlich energischer, kräftiger - und mit richtig hörbarer Spielfreude. Allerdings ist der Synthesizer zu laut aufgedreht. Sogar an den Flügel haben sie gedacht, den sie für den romantischen Gesangsteil brauchen. Dann wird es bombastisch - der Gesang ist gut wie noch nie, sehnsuchtsvoll - man merkt
ihm die Freude am Singen an. So geht es dann immer weiter, wie im Studio - man sehe sich dazu die Rezension des Studioalbums an.
Die gesamten 18 1/4 Minuten sind spannend, gelungen, proggig und genial - fast noch besser als im Studio. Da gibt es 5/5 Punkte + einen Bonuspunkt.

Nach diesem tollen Stück gibt sich das Publikum noch nicht zufrieden - eine Zugabe ist nötig, den Anwesenden, zu denen ich leider nicht zähle - wie auch? - scheint die Musik sehr zu gefallen, nach anfänglichem Zögern. Und die Zugabe ist der Refugee Jam, der durch hüpfenden Bassrhythmus, funkiges Clavichord, kantiges Schlagzeug und bluesige Vocalizations aufgebaut wird.
Dazu zitiert/erfindet Jackson einige Bluestexte wie "Ain't no Doctor's Son"... lustige Sache, entspannt, eine tolle Zugabe. 4/5 Punkte.


Das gäbe dann rein musikalisch 36/40 Punkten, das sind 90%, das entspräche 4,5/5 Punkten. Da es sich aber um ein faszinierendes Livedokument handelt, eines von zwei Alben einer tollen Progband, und da mathematisch das Aufrunden bei (n),5 auf (n+1),0 gilt, gibt es
5 PUNKTE für ein gelungenes Livealbum.

Absolute Kaufempfehlung - als Neuling aber erstmal mit dem Studioalbum überprüfen, ob es einem gefällt.
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