[REVIEW] Tales From Topographic Oceans (1973)

veröffentlicht: 14.12.1973

Jon Anderson ; Chris Squire ; Steve Howe ; Rick Wakeman ; Alan White
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JJG
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[REVIEW] Tales From Topographic Oceans (1973)

Beitrag von JJG »

„Tales“ hab ich zum ersten Mal ca. 1980 von einer Kassette gehört, die natürlich nicht so berauschend, aber gut war. Jeweils 2 LP-Seiten befanden sich auf je einer Tape-Seite. Weil die Kassette entsprechend gespult war, hörte ich zuerst die 3. LP-Seite. Ich war damals mächtig erstaunt was Yes auf diesem Album präsentierte. Zuvor hatte ich nicht so viel Gutes gehört. Ein paar Jahre später hielt ich dann das Album in der Hand. Bis heute habe ich es viele Male gehört und wäre gerne bei den damaligen Konzerten dabei gewesen.

Auch wenn so mancher denken wird der JJG spinnt, aber ich werde dereinst im Jenseits eine Zeitreise in meine Kindheit machen und als Abstecher Yes-Konzerte besuchen. Das ist mein voller Ernst! Vielleicht ist diese Grundeinstellung geeignet das genannte Doppelalbum zu etwas anders zu rezensieren.

Vorab soll hier eine kleine Bestandsaufnahme stattfinden. „Tales From Topographic Oceans“ kam Ende 1973 heraus. Aus meiner Sicht standen viele Outputs der großen Bands aus jenem Jahr hinter dem jeweiligen Vorgängeralbum und dem Nachfolger zurück. Das trifft vor allem auf „Brain Salad Surgery“ von ELP zu, denn es folgte ein Jahr auf das grandiose „Trilogy“ und wurde dann ein paar Jahre später auch von „Works I“ überflügelt. Etliche ELP-Fans werden das natürlich bestreiten.
Analog trifft dieses auch auf Genesis‘ „Selling England by the Pound“ zu, welches bekanntlich auf „Foxtrot“ folgte und von „The Lamb lies down on Broadway“ abgelöst wurde.
Die Ausnahme bildete für mich lediglich „The Dark Side of the Moon“, das erste Album von Pink Floyd, welches auf ganzer Linie überzeugen konnte und in jenem Jahr alle anderen Alben in puncto Produktion und kommerziellen Erfolg schlug. Aus meiner Sicht der Quantensprung für Pink Floyd.

Bill Bruford behauptet zwar, dass sein Weggang von Yes folgerichtig war, King Crimson wurde aber tatsächlich zu den vorgenannten Bands (leider) von Album zu Album eher uninteressanter. Man verfolgte zwar einen neuen Weg, Mastermind Fripps Gitarrenspiel, seine Ideen und Songs erschienen immer uninspirierter. So kam ca. 2 Jahre später das Aus. Glaubwürdig waren für mich hier auch Wetton und Bruford, die rückblickend kommentierten den Bandchef für „Red“ ins Studio zwingen zu müssen. Wie würde sich Tales anhören, wenn er geblieben wäre und Patrick Moraz schon eingestiegen wäre?

Bei all meiner geschriebenen Kritik stehen alle vorgenannten Alben und Bands natürlich auch auf einem sehr hohen Niveau. Genau deshalb sollten sie auch aus diesem Grund miteinander verglichen werden.

Der zweite Gesichtspunkt soll nun die Band, genauer gesagt die Betrachtung der einzelnen Mitglieder sein.

Alan White fand nach seiner jahrelangen Beschäftigung als exzellenter Studio-, Session- und Konzertdrummer endlich die musikalische Heimat, welche er nie wieder verließ. Seine Fähigkeiten konnten die Fans ja schon auf den erfolgreichen „Yessongs“ hören. Nun brachte er sich in das Doppelalbum ein. Er scheint mit dem Resultat auch sehr zufrieden zu sein. Er schafft die Balance zwischen prägnanten Rockrhythmen, Fusion-Patterns und Perkussion-Kollagen. Er verbesserte seine Technik und Präzision, für die er später bekannt wurde.

Im Gegensatz zu Alan verfolgte Rick Wakeman im Geiste schon andere Ziele. Seine Beiträge zum Doppelalbum sind eher songdienlich. Seine großartigen Ideen landeten auf seinen Soloalben. Es fiel ihm aber nicht schwer, gute Passagen für das Album zu liefern, obwohl er das Gesamtkonzept wohl nur noch respektierte. Er war in vielen Gazetten zum vermeintlichen Star der Band aufgestiegen und führte die Riege der weltweit besten Keyboarder an. Er war damit beschäftigt eine private Sammlung mit Dingen zu füllen, von denen er sich später wieder trennte oder auch trennen musste. Als Tastenmann war er fast unschlagbar. Kaum auszudenken, wenn er seine besten Vorstellungen in das neue Yes-Album in 1973 eingebracht hätte.

Den Gegenpol zu Wakey war Jon Anderson, der nun völlig im Yes-Rausch war. Er legte die Konzepte fest, gab die textlichen Rahmen vor, vollendete diese und brachte seine tiefen spirituellen Gedanken in die Songs ein. Er widmete sich Büchern, die sehr philosophische Hintergründe hatten, wurde zum Weltverbesserer, brachte Religionen und Weltanschauungen zusammen. Für ihn gab es schon vor dem Studio nur ein Konzept – vier Alben-Seiten – vier Songs. Was eine schwere Bürde war wie sich später zeigte. Sein unermüdlicher Arbeitseifer zeigte sich nicht zuletzt dadurch, weil die Grundgerüste für die Songs schon während der anstrengenden Tour entstanden.

Auch wenn alle Musiker als Komponisten benannt wurden, so entstanden sie hauptsächlich aus der Feder von Jon und Steve Howe. Dr. Howe war in jener Zeit auf der Suche nach neuen Herausforderungen als Gitarrist. Kaum ein Stil den er nicht bediente, kaum eine Gitarre, die er nicht beherrschen wollte. Das Komponisten-Duo Anderson/Howe stand in jener Zeit für einen Großteil der Stücke. Während viele damalige Prog-Bands in Richtung Hardrock, Blues und Soul blickten, ging Steves Aufmerksamkeit in die grandiosen Fusion-Bands wie „Return to Forever“ aber noch mehr in Richtung des „erleuchteten Orchesters“. In der Tat war John Mc Laughlin eine Ikone, weil er als Gitarrist nicht nur unverkennbar war, sondern auch das Spielspektrum und deren Grenzen kräftig erweiterte. Erstaunlich für mich, auch Steve ordnet seine geliebten solistischen Einlagen dem Gesamtkonzept unter, welches aufgrund der Länge des Albums aber genügend Freiraum bot.

Chris Squire machte diese Dinge alle gern mit, obwohl er nicht so überzeugt war. Er musste sich auf einen neuen Schlagzeuger einstellen, der aber berechenbarer war als der Vorgänger. Über die Jahre ist nicht nur die beste Rhythmus-Fraktion (O-Ton Trevor Horn), sondern auch eine tiefe Freundschaft entstanden. Chris‘ Spiel wurde zwar opulenter, entwickelte sich aber nicht in dem Tempo weiter, wie auf den vorherigen Alben. Er tarierte die Band aus und dämpfte sie, wenn er sah, dass es in eine Sackgasse ging.

Der dritte Gesichtspunkt möge hier die instrumentale Konzeption des Albums sein. Yes war auf der Suche … ein Album wie der Vorgänger (?) … das ging für andere Bands, die gern auf einer Welle weiterschwimmen, aber halt nicht für Yes. Anderson war es ziemlich egal was die Presse schrieb, er verfolgte einen Traum. Er wollte Schriften, Kulturen und neue Klänge einfließen lassen, was zunächst dem Zeitgeist entsprach, die Zuhörer aber vor Herausforderungen stellte. Was in 72 noch als Hip galt – die Konzerte mit ellenlangen Liedern zu versorgen, sie in die Weiten dieser Erde und sogar in die des Weltalls und die Tiefen des menschlichen Daseins zu entführen, war ein riesiger Spagat. Aber das ist eben Anderson & Co, so wie wir ihn kennen und lieben.
Dieses Konzept ging aber nur für einen gewissen Teil der Yes-Fans auf. Somit lieferte die Band ihr erstes umstrittenes Werk ab. Es wirkte eher langezogen, schwülstig, bombastisch, abgehoben und mystisch. Aber es gab/gibt viele Kritiker, die sich nicht mit dem Werk befasst haben. So zu lesen beim Lobhudelwerk auf Genesis von Bowler/Dray. Hier findet man tolle Details schöne Hintergründe, aber auch abwertende Seitenhiebe auf alle Mitkonkurrenten von Genesis. Das wird besonders darin deutlich, wenn man die zeitliche Einordnung betrachtet, oder kaum ein Wort zu Instrumenten oder Solowerken findet. Aber sei es wie es sei.
Aus meiner Sicht trifft das zu was ich eingangs zur Einordnung der Werke von ELP und Genesis geschrieben habe. Tales fällt historisch zwischen zwei grandiose Alben. Musikalisch orientiert sich die Band an klassischen Werken aus dem Fundus eines Sibelius oder Strawinskys sowie an den meisterlichen Debütalben der genannten Fusion-Bands. Hier sieht man auch die Dialektik, denn Fusion fand seine Wurzeln zu einem gewissen Teil auch aus den Entwicklungen der Artrockbands. Besonders Steve Howe ist dort beachtet. Seine Ausflüge auf Ancient und später auf Relayer mit „Sound Chaser“ brachten ihm auch Ruhm im Jazz-Lager ein.


Vier recht unterschiedliche Werke finden auf „Tales from topographic Ocean“ Platz. Zunächst das großartige Prog-Werk mit dem sehr ambitionierten „The Revealing Science of God/Dance of the Dawn“.Welch ein Songtitel, der vom Anspruch Andersons zeugte, der aber auch nicht zu Unrecht, abgehoben daherkommt. Zum Glück wurde auf der Remaster das Intro wieder eingefügt, welches aus Platzgründen auf der LP-Fassung fehlte. Das groß angelegte Werk (mit Längen) fügt sich wunderbar an das Konzept vom albumtitelgebenden Vorwerk „Close to the Edge“ an, erreicht dessen Tiefe aber nicht. Die Band kann hier besonders mit dem Prolog überzeugen. Wenn man die Entwicklung sieht, so fiel die Wahl bezüglich des Schlussteiles wieder eine mystische Ausprägung. Um diese nachvollziehen zu können, empfehle ich hier den Bonustrack, also die „Studio Run Trough“ Version. Jene würde für mich die bessere Alternative bieten, denn dem Song würde so ein Stimmungswechsel verliehen, die hauptsächlich auf Steves Akkordspiel basieren. Man entschied sich aber für die mystische Variante, weil sie eher dem Gesamtkonzept gefällt.
„The Remembering/High The Memory“ ist wohl das ruhigste aus den Operas von Yes, die die 20-Minuten Marke erreichen/überschreiten. Man kann in den ausgedehnten Passagen schwelgen, oder sich darin verlieren. Sehr schön dann der Teil, der auf der akustischen Passage basiert und eine positive Grundstimmung vermittelt.
Seite 3 huldigt mit „The Ancient/Giants under the Sun“dann vor allem dem Fusion- und Free-Jazz und vermittelt die Impressionen alter Werke, sei es im literarischen oder im bildhauerischen Sinne. Hier wird der Hörer auf eine Geduldsprobe gestellt, die dann später gelöst in „Leaves of Green“ kulminiert und versöhnt. Howe bietet hier ein herausragendes Beispiel seiner stilistischen Fähigkeiten und bringt Jon Andersons Texte wieder zu Erdig- und Endlichkeit zurück. Auch hier ein Verweis auf die Remaster-Version, die im ersten Teil interessanter scheint als die LP-Fassung, aber auch die elektrische Version des Schlussteiles vorführt.
Den Abschluss bildet dann das von vielen geliebte „Ritual/Nous sommes du Soleil“. Im Mittelteil toben sich Squire und White aus. Steve spielt eine elegische Gitarre und Jon schwingt sich zu den geliebten Höhen auf. Wenn „Rhythm of Love“ Yes‘ rhythmische Darstellung von Sex ist, dann ist Ritual das Kamasutra. Warum? Weil man unendlich sucht, grandios vollführt aber nicht alles gelingt was geht.

Die Produktion ist gut gelungen, obwohl sich noch mehr rausholen lässt. Ob Steven Wilson sich tatsächlich an das Werk traut? Hier war die Remaster schon eine deutliche Aufwertung, mit 5.1 könnte sich die gedachte Schönheit dieses Werkes entfalten.

Eine gute Alternative im Entstehungsjahr wäre aus meiner Sicht auch die Reduktion auf ein Album mit Überlänge gewesen. Mit Kürzungen hätte es ein makelloses Werk werden können:

LP:

Seite 1:
The Revealing Science of God/Dance of the Dawn
22:36

Seite 2:
The Remembering/High the Memory
06:12
The Ancient/Giants under the Sun/Leaves of Green
04:56
Ritual/Nous sommes du soleil
14:03

Werke sind aber wie sie sind und letztlich haben nur die Künstler das Recht sie zu verändern.

Links:
Diskussionsthread: http://yesforum.phpbb8.de/post50497.html#p50497
Tourdaten: http://yesforum.phpbb8.de/post50497.html#p50497
Track: The Revealing Science of God - http://yesforum.phpbb8.de/post50486.html#p50486
Infos zu Tales: http://yesforum.phpbb8.de/tales-from-to ... -t539.html
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

Saaldorf
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