Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

veröffentlicht: 13.09.1972

Jon Anderson ; Chris Squire ; Bill Bruford ; Steve Howe ; Rick Wakeman
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JJG
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von JJG »

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Beside hat geschrieben: Und sicherlich geht es nicht nur darum, die Intention von YES zu verstehen, sondern auch uns selbst.
Sehr schön gesagt
Wenn ich Anderson richtig verstanden habe, so ist ja genau dieses das Ziel.
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

Saaldorf

Aprilforst
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilforst »

@Beside - Schön, dass Du diesen Thread wieder in den Vordergrund gerückt hast. CTTE bietet halt sehr viel Raum für Interpretation und Spekulation. Wahrscheinlich kann man weder die Musik noch den Text intellektuell erfassen. Genauso wie man heute neben der "allgemeinen" Intelligenz eine "emotionale" Intelligenz annimmt, muss dieses Werk wohl auch mit anderen Gehirnzellen als den üblichen aufgenommen werden.
Wobei ja Musik immer auch etwas mit Emotion zu tun hat.
Die Musik beruht auf der Harmonie zwischen Himmel und Erde, auf der Übereinstimmung des Trüben und des Lichten. Hermann Hesse.
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Beside
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Beside »

Teil B: The Solid Time of Change

A seasoned witch could call you from the depths of your disgrace
And rearrange your liver to the solid mental grace,
And achieve it all with music that came quickly from afar
Then taste the fruit of man recorded losing all against the hour


1. Wort-Ebene
[Bei unklaren Begriffen sollen verschiedene Bedeutungen oder die semantische Grundrichtung aufgezeigt werden, ebenfalls werden feststehende Begriffe, Redewendungen, Termini technici = Fachbegriffe ausgewiesen.]

seasoned: Eigentlich abgelagert oder reif mit Bezug auf Nahrungsmittel; bei Menschen auch reif, erfahren, eine "gestandene Persönlichkeit"; mit Bezug auf die im Text häufigen "seasons" würde ich lebenserfahren nehmen.
witch: Hexe oder (was vom Kontext her kaum passt) Wünschelrute; da Hexe zu negativ klingt, nehme ich Zauberin.
disgrace: Schande, Schmach, Ungnade; verwendet v.a. im öffentlichen Zusammenhang (d.h. für andere sichtbar, in den Augen anderer).
liver: Leber, in Redewendungen auch ein "leberbezogenes" Leben i.S.v. Sucht usw. Kam mir als Nomen in diesem Zusammenhang bisher nur einmal unter (bei Oscar Wilde?).
solid: fest, beständig, gründlich, haltbar, massiv; alles i.S.v. stabil oder verlässlich.
grace: grace hat viele Bedeutungen, hier passt am ehesten Anmut, Liebreiz. Das Gegenstück zu "disgrace" - also öffentlich wahrnehmbare Würde, Ehre, usw. Die Übersetzung Gnade entfällt, da es hierzu jemanden bräuchte, der Gnade i.S.v. Strafverschonung gewährt - und diese(r) kommt im Text nicht vor (bzw. wie und warum sollte eine witch Gnade gewähren?).
recorded: Neben der technischen Bedeutung als aufgenommen ein Term. techn. in Justiz (aktenkundig machen) und Geschichtsschreibung (in einer Chronik aufgezeichnet).
against the hour: Eigentlich (ent)gegen, im Widerspruch / Widerstreit zu; gelegentlich aber auch als Bezeichnung einer Abhängigkeit. Hier passt beides: Die Früchte des Menschen verloren gegen (im Wettlauf mit) der Zeit oder auch in Abhängigkeit, also im Lauf der Zeit.

2. Vers-Ebene
[Die Deutung des ganzen Parts befindet sich ganz am Ende des jeweiligen Parts.]

Die lebenserfahrene witch ist ein weibliches Wesen mit Zauberkräften bzw. übernatürlichen Kräften. Grundsätzlich entspricht beides Andersons Mentalität. Aber könnte hier bildlich der Fährmann aus Siddhartha gemeint sein? Immerhin bilden Anfang (witch) und Ende (master) die Klammer dieses Parts. Auch betont das "herausrufen", dass der nach Erkenntnis Suchende nicht aus eigener Kraft vorankommt, sondern Hilfe braucht (wo er doch in der Tiefe ist). Und Siddhartha erhält vom Fährmann entscheidende Impulse. Anderson passt auch gerne Begriffe an oder tauscht sie aus, wenn dies besser zur Melodie passt - und ferryman klingt nun nicht so dolle (außer bei Chris de Burgh).

could call ist Konjunktiv (könnte) und bezieht sich auch auf die folgenden beiden, durch "and" verbundenen Zeilen-

disgrace und grace bilden einen Zweizeiler mit gemeinsamem Sinn (wen der Fachbegriff interessiert: Hendiadyoin). Deshalb wichtig, da wir so Aufschluss über die "liver" erhalten. Früher habe ich dies auch im klassischen Sinn von wegen Leber als Sitz der Gefühle, der Seele usw. gesehen - aber dies ist kein passender Gegensatz zu grace. Somit muss Leber negativ besetzt sein. Andere Deutungen reflektieren hier über ein Gleichnis zu Sucht, Anspielung auf Drogenmissbrauch (der Bandmitglieder ...) o.ä. Dies würde den äußerlich sichtbaren Aspekt der Schmach durchaus gut aufnehmen.
Dennoch geht es mir hier mehr um das Grundsätzliche und ich ziehe "Liderlichkeit" vor. Kein üblicher Ausdruck, wer findet einen besseren?

Der öffentliche Aspekt der beiden Begriffe bezieht sich allerdings nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf den Blick in den Spiegel: Was sehe ich hier? Haben wir die Würde oder Anmut, die eigentlich dem menschlichen Geist oder der menschlichen Bestimmung entspricht?

Die Zauberin arbeitet mit Musik, für Anderson ein klassisches Bild für Harmonie und höheres Verständnis. Beispiel: Im Lied "Beside" ;-) grübelt er über ein ähnliches Problem, nennt dann einige Beobachtungen, die ihm zu einem harmonischen Verständnis verhelfen und zieht das Fazit: "Even this we could call music". Anderes Beispiel: Music is magic (90125 - Our Song).
Dass diese Erkenntnis wächst (aus der Ferne näher kommt, größer und deutlicher wird), ist nachvollziehbar - aber warum kommt sie schnell? Möglicherweise, weil sie nicht allmählich im Lauf des Lebens zunimmt, sondern weil uns in manchen Lebensmomenten (dummerweise oft mit Leidenssituationen verbunden) plötzlich ein Licht aufgeht.

Worauf bezieht sich "recorded", was ist aufgezeichnet? Die Früchte der Menschheit oder deren Verlust? Vom Satz her ist beides möglich, kann aber auch in eins gesehen werden.
Den Bezug zum "Apfel" (genauer: Frucht) der biblischen Schöpfungsgeschichte sehe ich trotz "recorded" nicht. Erstens stammt diese Frucht von Gott und wird von einer Schlange aufgeschwatzt (also keine fruit of man), zweitens vermittelt sie die Erkenntnis von Gut und Böse. Und die ging im Lauf der Zeit nicht gesamt ("all"!) verloren. Recorded lässt sich ohne weiteres auf die Geschichtsschreibung der Menschheit beziehen.



And assessing points to nowhere leading every single one,
A dewdrop can exalt us like the music of the sun
And take away the plain in which we move,
And choose the course you're
Running down at the edge, round by the corner
Not right away, not right away
Close to the edge, down by a river
Not right away, not right away

1. Wort-Ebene

assessing: Den Wert von etwas beurteilen oder festlegen.
points: Nicht i.S.d. Verbs von wegen auf etwas deuten oder aufmerksam machen, sondern Nomen. Hier passt nun m.E. im Kontext perfekt der Term.tech. (Eisenbahn) "Weiche" oder "Weichenstellung".
leading: Vom Kontext her schwierig; als Verb heranführen oder hinführen, münden, auch ausloten (wo führt es hin?); der Text hat jedoch eben kein "leading TO", daher würde ich das ausloten bzw. überprüfen bevorzugen.
exalt: Erhöhen, verherrlichen.
plain: Eigentlich Fläche, Term.tech. (Geographie) Ebene oder flache Landschaft. Mit umgekehrtem Bezug auf "I get up, I get down" würde ich Flachland vorschlagen; zumal wir im Deutschen hier oft einen negativen Beiklang haben (Flachland-Bewohner).
course: Viele Bedeutungen, letztlich i.S.v. Bahn, Kurs, Richtung (wo soll es hingehen?).
right away: Feststehender Begriff = sofort, schnellstmöglich, auf der Stelle.
close to the edge: Feststehender Begriff = ganz nah am Abgrund, im Deutschen i.S.v. am Rande der Katastrophe.
round by the corner: Feststehender Begriff wie im Deutschen = gleich um die Ecke, meint: ganz nahe.

2. Vers-Ebene:

Da in den folgenden Versen "us" und "we" auftaucht, würde ich diese Form auch für die erste Zeile verwenden. Frage: Wir sollen alle Weichenstellungen - und zwar jede einzelne - ins Nirgendwo ausloten und beurteilen (wieder ein Doppelbegriff)? Wissen wir es zuvor nicht und müssen uns also immer wieder eine blutige Nase holen? Oder wissen wir es eigentlich, aber müssen diese Wege gehen, weil man solche Erkenntnisse nicht er-lernen, sondern nur er-leben kann? Hier wäre nun ein überdeutlicher Bezug zu Siddhartha.

Sonne ist quer durch alle Mythen Spender von Licht und Wärme, damit also letztlich des Lebens. Music (vgl. oben) meint die Harmonie. Diese kombinierte Erkenntnis kann uns einerseits (innerlich) erhöhen (im Sinne von erhebend?), aber auch - man denke an die o.g. grace - verherrlichen. Dabei muss jedoch nicht immer das große Ganze im Blickfeld stehen, sondern jeder kleine Tautropfen spiegelt in sich das Licht der (Tau = aufgehenden!) Sonne.

Die plain im folgenden Vers deutet jedoch eher auf "erhöhen" hin. Eigentlich werden jedoch nicht wir angehoben, sondern das Flachland wird weggenommen. Möglicherweise ein Unterschied.

Prinzipiell wäre beim Subjekt für "choose" aufgrund der doppelten Verknüpfung mit "and" auch, dass jeder Tautropfen für uns den Weg auswählt. Halte ich aber für unwahrscheinlich.

Im Booklet sind hier verbunden "running down at the edge", eine interessante Kombination, denn dies könnte letztlich bedeuten, wir suchen uns (nur) den Weg aus, auf dem wir hinunter zum nahen Abgrund eilen. Allerdings heißt es "AT" anstelle "TO" - korrekt würden wir dann nur den Weg suchen, den wir am Abgrund entlang rennen.

Das doppelte warnende "Not right away" würde ich mit "Nicht sofort und nicht zu schnell" übertragen.


Crossed a line around the changes of the summer
Reaching [out] to call the colour of the sky,
Passed around a moment clothed in mornings faster than we see
Getting over all the time I had to worry
Leaving all the changes far from far behind
We relieve the tension only to find out the master's name.


1. Worte-Ebene

changes of the summer: Jahreszeitenwechsel; da sich der Sommer ändert (also da ist) meint es Sommerende / Herbstanfang.
reaching out: Feststehender Begriff = ein absolut ehrgeiziges Streben nach etwas.
call: Viele Bedeutungen im Zusammenhang mit rufen; hier würde ich "benennen, einen Namen geben" bevorzugen.
passed around: Meint nicht nur an etwas vorbeigehen / vorüberziehen, sondern beinhaltet oft auch eine gewisse Schnelligkeit, sozusagen an etwas vorbeiflutschen.
clothed in: (Ein-)gekleidet, gelegentlich auch verkleidet.

getting over: Vom Prinzip her über etwas hinwegkommen (Problem, Schwierigkeit, Schicksalsschlag, usw.); positiv (mit etwas fertig werden) oder negativ (z.B. eine Ungerechtigkeit verschmerzen).
changes: Veränderungen oder Entwicklungen
far from far: Verdoppelung, fernab der Ferne; poetisch für "aus weiter Ferne".
relieve: Dem Sinne nach eine Schwere abbauen oder loswerden, bei sich oder anderen; also abbauen, entlasten, erleichtern, unterstützen, ...
tension: Spannung; alles was mit Anspannung, Verspannung o.ä. zu tun hat.
master: Eine Kombination von Kompetenz und Überordnung; hier bietet sich Lehrmeister an. Das oft in Deutungen verwendete "Gott" passt m.E. hier nicht - vgl. unten.
name: Primär der Name, aber auch eine Benennung und Bezeichnung.

2. Vers-Ebene

Die Grenze zu überschreiten beinhaltet einen Zeitpunkt (vgl. oben music - quickly), zum anderen eben den Aspekt einer "Grenze" zwischen zwei Bereichen.
Ende des Sommers / Herbstanfang kann als Herbst des Lebens, aber auch als Übergang von guten zu schlechten Zeiten gesehen werden.

Sky meint im Gegensatz zum (jenseitigen) heaven den für unser Auge sichtbaren Himmel. Welche Assoziation verbinden wir farblich mit dem Himmel im Herbst? Der Name dieser Farbe ist gesucht bzw. (reaching out) sogar dringend oder ehrgeizig gesucht.

"Faster than we see" wäre vom regulären Satzbau auf "mornings" bezogen, könnte aber auch aufgrund der schon genannten Methodik von Anderson (und wieder als Doppelbegriff) auf den Schnelligkeitsaspekt von "passed around" bezogen sein. (In anderen, vor allem klassischen Sprachen ist die Umstellung von Satzteilen ein häufig genutztes Mittel). Also:
Wir fliegen gewissermaßen an einem Augenblick vorbei, der sich in (Plural = mehrere / viele) Morgen (= Tage) kleidet bzw. diese beinhaltet.
Oder wir passieren einen Augenblick, der jedoch in unsehbarer (besser deutsch: unsagbarer) Schnelligkeit viele Tage beinhaltet.
Beides sind so faszinierende Bilder, dass man sich kaum entscheiden möchte ...

Es folgen drei Zeilen, deren Bilder die gleichen Begriffspaare haben: Ein negativer Zustand und dessen Überwindung: times of worry - getting over; changes - leaving behind; tension - relieve. Dabei wären dann die changes als (für Menschen ja meist unangenehme) Veränderungen zu sehen.

Ziel dieser dreifachen Befreiung ist "to find out" nicht den Lehrmeister an sich, sondern dessen "name". Meint dies den Personennamen (plus Adresse ...) oder eine allgemeinere Bezeichnung = Wer oder was ist der Lehrmeister? Dann bestünde eine Parallele zu "call the colour of the sky". Sollte man im Auge behalten.


Down at the end, round by the corner
Close to the edge, just by the river
Seasons will pass you by
I get up. I get down
Now that it's all over and done
Now that you find now that you're whole.


1. Wort-Ebene

over and done: Feststehender Begriff = im Deutschen in etwa wie längst erledigt, vorbei und vergessen, Gras darüber gewachsen usw.
find: Nicht nur finden, sondern erweitert auch etwas beobachten, entdecken, feststellen.
whole: Beschreibt etwas vollständiges, eine Gesamtheit (nichts fehlt mehr), hier gefällt mir der Ausdruck "ganzheitlich".

2. Vers-Ebene

Die Aussage der vier Ortsbezeichnungen ist klar (der Bezug zu Siddhartha wohl auch).
Wer sich die Mühe einer Matrix macht (down, round, close, just versus edge, corner, river, end) wird vielleicht eine tiefere Symbolik finden ... ich seh nix:
5 x round / corner
4 x close / edge
3 x down / edge
3 x down / river
3 x down / end
2 x close / end
je 1 x down / corner, round / river, close / river, just / river

Wichtig ist das Futur der "seasons will pass". Diese Entwicklung dürfte den eher punktuellen Ereignissen bei der Ortsbezeichnung folgen. "I get up. I get down" wiederum bezieht sich auf die "seasons".

Es folgt wieder ein Zeitpunkt = "now", an dem all das oben genannte vorbei ist ("over and done"), mit der Erkenntnis / Feststellung, dass der Zustand nun ganzheitlich, also nicht mehr getrennt von irgendetwas oder im Menschen selbst (buddhistisch gern: "zersplittert") ist.

Eine mögliche Verbindung wäre (neben der Überwindung des Negativen der vorherigen Strophe zu "over and done") auch noch das "find" am jeweiligen Ende dieser und der vorherigen Strophe.


3. Part-Ebene:

[Hier würde ich empfehlen, eine Pause einzulegen, um die bisher bei Euch aufgetauchten Ideen, Gedanken, Bilder, ... nicht sofort durch meine sicherlich subjektive, vereinfachte, unzureichende ... aber evtl. auch falsche Gesamtdeutung des ersten Parts verschwinden zu lassen.]

Ansonsten: Weiter im Text ...
[Einzelne erweiterte Informationen für Wissbegierige habe ich in eckigen Klammern angefügt.]

Die Menschheit und jeder einzelne Mensch sind allein schon empirisch ein Elend. Wer dies anders sieht, möge mal eben "Traurig, aber wahr" von Georg Danzer anhören.
[Am Rande: Happy 60. Birthday an Wolfgang Ambros und seine liver ...].
Irgendetwas läuft schief, denn eigentlich müsste doch der vernunftbegabte Mensch sein Leben oder die Zustände auf dieser Welt in den Griff bekommen.
[Interessanter Unterschied:
Der Buddhismus sieht im Inneren jedes Menschen einen goldenen Kern, der nur an der Außenseite als Schutz oder Folge des Lebens von einer Schmutzschicht umhüllt ist. Lösung: Erkenne diesen goldenen Kern in dir und in den anderen Menschen.
Das Christentum geht dagegen von einem sündigen Zentrum aus, das äußerlich durch unser gutes Bemühen und Streben versteckt ist. Lösung: Erlösung von außen durch einen Gott, der als "Heiliger Geist" dann im Menscheninnersten wohnt. Begründung z.B.: Wir müssen unseren Kindern nicht das Lügen, Stehlen, ... beibringen, sondern diese Dinge bleiben zu lassen. Hat auch was für sich. ;-)
Die Philosophen sinnieren darüber, ob unsere innerste Essenz die Existenz prägt oder umgekehrt ...]


Auf normalem Wege scheint diese Änderung jedoch kaum möglich, wie oft wollten wir uns schon ändern und haben versagt. Manche guten Ansätze gingen nach kurzer Zeit wieder unter, also keine solid mental grace. Und warum sind die Deutschen so unzufrieden, wo doch in jedem Haushalt durchschnittlich gefühlte 3,7 Exemplare von "Sorge dich nicht, lebe!" stehen? Also braucht es wohl übernatürliche Kräfte - eine Zauberin. Mit Lebenserfahrung, da das Wesentliche nicht als Lehre vermittelt werden kann (Siddhartha!). Eine Zauberin, die nicht mit dem Holzhammer arbeitet (Du bist ein Trottel!), sondern mit Liebe, Magie, Harmonie (music).
Die von dieser Zauberin (oder später dem Lehrmeister) vermittelte - unserer Natur so fern liegende - Erkenntnis kommt nicht als lebenslanger Prozess, sonder als oftmals schneller oder plötzlicher Aha-Effekt.

Aber: Sie könnte (could) nur helfen, automatisch passiert nichts. Was sollten wir also tun? Es folgt eine Gebrauchsanweisung:

1. Sieh die Früchte der Menschheit an. Große Menschen, große Reiche, große Unternehmungen - alle sind sie untergegangen, verloren im Lauf der Zeit, nur noch notiert in Geschichtsbüchern, auf Gedenkstelen, in Autobiografien, ...
2. Wie sollte Dein Leben weitergehen? Prüfe alle Vorschläge, die Dir in den Sinn kommen, die andere Menschen, Philosophen, Theologen, Psychiater, ... für Dich bereit halten. Und erkenne: Am Ende Deiner Wege und Möglichkeiten steht das nowhere. Alle Weichenstellungen führen irgendwann an die letzte Tür, die Du öffnest und vor einer Wand aus Nichts stehst.
[So der originäre Buddhismus, spätere Ausweitungen sind dem menschlichen Bedürfnis nach einem höheren Sinn oder einer höheren Gerechtigkeit wieder entgegen gekommen. Auch das Christentum hat da eine kleine, aber interessante Variante. ;-) ]
3. Wechsle die Blickrichtung: Weg von den größten Dingen oder Erkenntnissen, nach denen Du strebst, von denen Du träumst, die Du begehrst, ... hin zu den wunderbaren Kleinigkeiten. Ein Weltreich ist nichts gegen den kleinsten Tautropfen, in dem sich die Herrlichkeit der gesamten Sonne widerspiegelt. Die Umarmung durch die geliebte Frau, das Lachen unserer Kinder sind mehr wert als jeder Millionengewinn. (Ach, könnten wir das doch jeden Tag so sehen ...).
4. Und diese Sicht ermöglicht es, unser tägliches "Flachland" zu verlassen, durch das wir unachtsam hindurchtrotten. Es ist ein Paradox: In unserem Kopf gehen permanent die größten Träume, Sehnsüchte, Ängste, Grübeleien um - und wir verpassen es daher permanent, die wirklich wunderbaren Dinge an uns und im ganzen Leben groß werden zu lassen.
[Nettes Bild: Man stelle sich vor, wir würden den ganzen Tag von einem Mitmenschen begleitet, der uns permanent alles das laut ins Ohr sagt, was an Gedanken und Gefühlen in uns herumschwirrt. Wir wären schnell gelangweilt von dem immer gleichen Gesülze, würden ihn spätestens nach einer Stunde für verrückt erklären - oder ihm gleich genervt eine aufs Maul hauen. Unserem Geist erlauben wir diesen Blödsinn aber täglich und allezeit.]
5. Wenn wir all dies erkennen, sehen wir unseren tatsächlichen Platz im Leben: Wir stehen ganz nahe an einem Abgrund. Siddhartha war auf seiner Suche nach Erkenntnis beide extreme Wege gegangen, Askese und Hedonismus. Und am Ende stand er unten am Fluss, angeekelt von sich und dem Leben ... und wollte sich schlichtweg ersäufen. Diese gefährlichen Wege müssen auch wir gehen, so oder anders. An diesem Punkt müssen auch wir ankommen. Doch je extremer die Wege und die Brutalität dieser Erkenntnis, desto größer die Gefahr - daher: Not right away!

Es folgt ein autobiografischer Bericht von Anderson, von dem er mehrfach berichtet hat - ein Wechsel in einen anderen wunderbaren (Erkenntnis-)Zustand, der sein weiteres Leben geprägt habe. Da ich seine damalige Situation nicht genauer kenne, würde ich weiterhin allgemein interpretieren:

In der o.g. extremen Situation kommt die neue Erkenntnis (bei Siddhartha das Hören des Om) schlagartig.
[Eine Erklärung dieses Om würde nun echt den Rahmen dieses Textes sprengen. Bitte bei Wiki nachlesen oder auch Siddhartha vornehmen.]
Ob mit Herbstanfang eine Art Midlife-Crisis gemeint ist (die ja im Leben von sehr früh bis sehr spät auftauchen kann - bei manchen sogar mehrmals ...), eine schöne (Sommer-)Zeit zu Ende geht oder aber einfach ein Gefühl auftaucht, dass nun der "Herbst des Lebens" beginnt - alle Deutungen sind möglich.
Und dann stehst Du plötzlich da, mit Deinem Alter, Deiner Krankheit, Deinem Schicksal, Deiner o.g. Erkenntnis (!) ... und weißt nicht mehr weiter. Du kannst Deine Lebenssituation nicht mehr einordnen, willst oder musst dem plötzlich grauen Himmel einen neuen Sinn geben.

Blitzschnell ziehen dann in einem Augenblick die Tage Deines Lebens an Dir vorüber. Gute und schöne Momente, aber auch schlimme Zeiten. Und dann spürst Du eine abgrundtiefe Scham. Nicht wegen Deiner Fehler, Sünden oder wie man dies auch immer bezeichnen mag. Sondern weil alle Bewertung auf den Kopf gestellt wird. Die vielen schönen Kleinigkeiten hast Du allzu oft übersehen, weil Du permanent Deine Energie darauf verschwendet hast, irgendwelchen Wünschen, Ungerechtigkeiten, Sorgen oder Ängsten hinterher zu grübeln. Du wolltest Dinge erreichen oder erwerben, die Du nicht hattest, aber scheinbar zum Glücklichsein benötigst. Und was Du hattest, wurde krampfhaft festgehalten, jeder Veränderungen hast Du mit Angst entgegen gesehen, denn sie hätte ja einen Verlust bedeuten können.
[Der Buddhismus lehrt dies als zentrale Botschaft: Leben ist Leiden. Und dieses Leiden entsteht aus Begehren. Wir begehren, was wir nicht haben. Und behüten ängstlich, was wir meinen, zu besitzen. Ein anderes, freies Leben ist damit nur möglich, wenn man dieses Begehren aufgibt.
Dies praktisch identische Botschaft findet sich in der sogenannten "Bergpredigt" Jesu. Dass seine meisten "Nachfolger" dies nicht verstanden oder beherzigt haben, ist eine andere Geschichte ...]


Und aus dieser neuen Perspektive heraus kann man die schlimmen Zeiten überwinden, die ganzen Veränderungen des Lebens hinter sich lassen, alle Anspannung aufgeben.

Warum nun aber diese o.g. "Gebrauchsanweisung", die uns (und Siddhartha) an diesen gefährlichen, aber notwendigen Punkt gebracht hat? Sie ist einfach notwendig, um den Lehrmeister zu erkennen, zu finden, zu bezeichnen, von dem wir ab jetzt lernen wollen. Dies mag vordergründig eine Zauberin (und damit schließt sich der Kreis dieses Parts) oder aber (wie bei Siddhartha) ein Fährmeister sein. Der letzte Lehrmeister aber, auf den alles verweist, ist der Fluss. Und eigentlich muss man Siddhartha und seine Erfahrungen mit dem Fluss gelesen haben, um den weiteren Liedtext zu verstehen. (Und ebenso die wunderschöne musikalische Umsetzung dieses Flusses mit den darin treibenden Zeichen des "Lebens" zu Beginn von Part 3).

So sitzen wir nun an diesem Fluss, haben eine neue Sicht (oder besser: bisher nur einen neuen Aussichtspunkt), sehen den Jahreszeiten des Lebens zu, wie sie an uns vorüberziehen. Alles im Leben Notwendige, das uns zu diesem Punkt geführt hat, haben wir hinter uns gebracht. Und wir sehen uns an (oder in uns hinein) und sind nicht mehr "zersplittert" in Gedanken und Gefühlen, nicht mehr getrennt in Leib und Geist ... aber auch nicht mehr getrennt von den anderen Menschen bzw. dem gesamten Rest des Lebens Bisher gab es mich und es gab die anderen. Jetzt sehen wir, dass alles gemeinsam den gleichen Fluss hinab treibt. Wir sind eins mit uns und der Welt, wir sind "ganzheitlich".
[Wieder eine wesentliche Botschaft des Buddhismus - nachzulesen in der einschlägigen Literatur, die inzwischen in vielen Buchhandlungen eine eigene Abteilung mit vielen Regalmetern belegt. ;-) ]
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rowoma
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von rowoma »

Chapeau - trifft genau meine Empfindungsebene - könnte es aber niemals in solch treffende Worte fassen.... Genau dieser Inhalt, kombiniert mit einer einzigartigen Musik, macht die Einmaligkeit dieses Werkes aus. Großes Kompliment an Dich "Beside"!!!!

Aprilforst
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilforst »

rowoma hat geschrieben:Großes Kompliment an Dich "Beside"!!!!
Dem schließe ich mich uneingeschränkt an. Über einiges muss ich noch mal nachdenken. Dass die Leber (Liver) auf C2 anspielen soll, erscheint mir zu platt und durchsichtig. Andererseits, wenn man weiter denkt Richtung Lotterleben ... hm.
Auch die Sache mit der Frucht sehe ich etwas anders als Du. Natürlich ist nicht alle Erkenntnis futsch, aber (laut Bibel) das Paradies. Kann man mehr verlieren?
Der Spielerei mit den Wörtern im Refrain würde ich wie Du nicht allzu viel Bedeutung zumessen. Das ist wohl nur künstlerische Freiheit.
Mir fiel beim Lesen eben noch Andersons "Devine Mother" ein. Ob das die "seasoned Witch" ist? Hatte er die damals schon?
Besonderen Dank für das, was Du "Part-Ebene" nennst. Da liegen viele Gedankenanstöße drin. Beim nächsten Durchlauf des Tracks werde ich wohl etwas anders hinhören.

Beside - jetzt, da Du uns angefixt hast, bitte ich darum, auch den restlichen Text von CTTE für uns aufzubereiten. (Eilt ja nicht. Jedenfalls nicht sehr.) Und dann gibt es da noch "The Gates of Delirium", "Tales from Topographic Oceans" und noch so einiges andere. ;)
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JJG
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von JJG »

Es ist schon erstaunlich. Trotz aller unterschiedlichen Interpretationen liegen wir doch beim Empfinden
der Musik und des Textes, oder so wie sie/er Bilder baut, recht nahe. Besonders Dein letzter Absatz (Beside)
kommt meinen inneren Bildern und meiner Textauffassung recht nahe.

Ich glaube Anderson hatte damals seine Divine Mother noch nicht. Aber vielleicht hat er genau nach
Ihr gesucht. Dennoch glaube ich nicht, dass in jedem Wort eine tiefere Bedeutung liegt. Jon hat seine
Texte auch mal der Musik angepasst. Für ihn hat der Wort-Klang eine sehr hohe Bedeutung. So ähnlich
findet man es auch in vielen ostlichen Religionen. Menschen lassen sich (auch) durch Klänge in eine andere
Bewustseinsebene versetzen. Dabei spielt die Harmonie des Klangs mit der ihr umgebenden "Landschaft"
(plain) eine große Rolle.

Close to the Edge = Kurz vor dem Abgrund ist für mich hier aber nicht negativ besetzt, eher als scheinbare
Barierre, die man überwinden muss. Das kann man nicht äußerlich, sondern nur innerlich tun.
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

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Beside
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Beside »

Audrey Kitagawa trägt den Titel der "Devine Mother" erst seit 1992. Während ihre Vorgängerin der Öffentlichkeit eher unbekannt war, ist Kitagawa eine profilierte (und publikumswirksame) Persönlichkeit. Der Song "Change we must" (veröffentlicht 1994) enthält hawaiianische Elemente und verarbeitet Andersons Eindrücke der Begegnung mit dieser Bewegung.
[Edit: Ich hab heute morgen noch nach der Quelle dieser Aussage gesucht, diese aber an keiner der vermuteten Stellen gefunden ... also ohne Gewähr.]

Für mich ist es auch eine schwierige Frage, inwieweit die christlichen Begriffe oder Symbole im Text tatäschlich auch christlichen Sinn implementieren oder nur als (im angloamerikanischen noch viel stärker übernommene) Metaphern dienen. Wer bei uns z.B. vom "Sündenbock" spricht, hat meist auch keinen biblischen Hintergund mehr im Sinn. Und wenn ein usanischer Forscher von "to sacrifice a mouse" spricht, hat er da erst recht nichts mehr mit der Bibel am Hut. ;-)

Tja, die Wort-Klang-Verbindung macht es nicht leichter. Zugleich ergeben die Wortanpassungen dennoch (meist) einen Sinn. Klassisches Beispiel ist die Anpassung des ursprünglichen "total mass return" zu "total mass retain" - passt beides.
Für mein Empfinden gibt es YES-Texte, die sich durchgehend sinnvoll deuten lassen (so - zumindest noch - meine bisherige Hypothese: CTTE ;-) ) und andere, bei denen es mir von vorn bis hinten nicht gelingen will, einen auch nur halbwegs brauchbaren Sinnzusammenhang zu finden ...

Hmja, und die Tales übersetzen ... da müsst ich die Platte ja noch ein zweites Mal anhören [Ironie-Modus OFF ... habt ihrs mitbekommen, Ironie-Modus Off ... bitte nicht hauen ... ;-) ]

Schönen Tag noch
Beside
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JJG
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von JJG »

Bei der Betrachtung der Texte darf man auch Steve Howe nicht vergessen.
Immerhin ist nicht der gesamte Text von Anderson und der Titel "Close to the Edge"
stammt sogar von Bill Bruford.

Für Anderson gibt es ja (wenn ich ihn richtig verstanden habe) nur eine Religion/ein Weltbild.
Textlich sehe ich hier auch einen großen Zusammenhang bzw. eine Fortführung des textlichen
Themas in "Awaken". Auch Chris Squire hat sich dazu lyrisch geäußert. Nur drückt er sich
anders aus - "Parallels".

Inzwischen gibt es ja kaum ein Konzert in dem Anderson nicht auf seine Sicht der Dinge verweist.
Bei mir entsteht der Eindruck, dass er sich somit auch gewandelt hat. Früher war er eher distanziert
zu den selbsternannten Propheten. Inzwischen wird er diesbezüglich selbst dieser Gruppe zugeordnet.

Sein Ziel hat er mit den Texten erreicht, man geht nicht einfach darüber hinweg.
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

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Beside
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Beside »

Stimmt, haste mich ertappt ... ich merke dann immer wieder, dass ich bei diesen Texten zunächst versuche, alles bei Anderson einzuordnen oder mit ihm zu erklären.
Liegt vielleicht auch daran, dass Steve Howe öffentlich nicht so prägnant in Erscheinung tritt - und ich ehrlich gesagt auch zu wenig über ihn weiß.

Sicherlich haben sich immer auch die jeweils nicht als Autoren genannten Bandmitglieder mit eingebracht. Ohne z.B. Squire und sein Gefühl für Rhythmik dürften manche Songs erheblich weniger "Pep" haben.

Insgesamt hat hier das Schicksal oder wer oder was auch immer einige musikalisch, lyrisch, intellektuell und auch vom Beherrschen ihrer Instrumente her unglaublich begabte Menschen zusammengeführt. Heraus kamen dann etliche High-End-Werke, die man nur bewundern kann. ... So, musste mal wieder gesagt werden. ;-)

Und Andersons spiritueller Werdegang: Den verfolg ich seit vielen Jahren. Was ich oben geschrieben habe, ist nur der müde Versuch, einen roten Faden zu finden. Hmpf.
Aktuell vertritt er (abgesehen von kleinen Ausbuchtungen wie seine Erkenntnisse zu seiner Elfennatur) im wesentlichen die Sicht der ISF: http://www.srkspiritualfamily.org
Wobei ich zeitlich mit seinen vielen Äußerungen, Interviews, Einträgen im Social Network usw. ehrlich gesagt nimmer hinterher komme.

Member Y
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Member Y »

YES hat mich immer musikalisch fasziniert und beeindruckt. Was die Texte angehen, da habe ich nie einen Zugang gesucht. Musik ist für mich überwiegend eine emotionale und handwerklich gekonnte Angelegenheit, auch Kunst genannt. Viel mehr interpretiere ich generell nicht hinein.
Dazu kommt, daß ich zur spirituellen und esoterischen Welt, die ich wie fast alle unterschiedlichen Auffassungen und Anschauungen respektiere, keine Nähe habe.
Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, im Gegenteil, meine Hochachtung vor den Interpretationsversuchen in diesem Thread.
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Beside
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Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Beside »

Teil C: Total Mass Retain

My eyes convinced eclipsed with the younger moon attained with love
It changed as almost strained amidst clear manna from above.
I crucified my hate and held the word within my hand
There's you, the time, the logic, or the reasons we don't understand.


1. Wort-Ebene

convinced: Meint - wie in vielen Sprachen - beides: überzeugt sein (positiv, d.h. aufgrund guter Argumente) und überredet sein (negativ, d.h. ohne oder sogar gegen gute Argumente).
eclipsed: Term. techn. aus der Astronomie = verfinstert, bedeckt; übertragen auch verblassend, in den Hintergrund stellend.
younger moon: Feststehender Begriff für Jugendzeit, Pubertät.
attained: Erlangt; als Verb: ankommen, erreichen, erzielen, gewinnen.
almost: Annähernd, fast, beinahe (also in einschränkendem Sinne).
strained: Sehr viele Term. tech. von Belastung / Beanspruchung bis hin zur Deformation; übertragen auch angespannt, angestrengt.
amidst: Inmitten, mitten unter.
crucified: Verb = kreuzigen i.S.v. quälen, jmd. fertigmachen; auch opfern, vollständig hingeben.
there is: Feststehender Begriff = es gibt.
reasons: Term. techn. jur. für Begründung; ansonsten Grund / Anlass oder Argument / Beweggrund; das Verb enthält auch Bedeutungen wie erörtern, über etw. nachdenken, schlussfolgern.

2. Vers-Ebene

Diese vier Zeilen (über das Thema Liebe ...) sind die einzigen im ganzen Epos, deren Enden sich reimen.
Über die "reasons we (don't) understand" besteht eine Verbindung zum nächsten Abschnitt.

convinced eclipsed: Da eclipsed eher einen negativen Beiklang hat, würde ich convinced auch mit "überredet" übersetzen.
attained with love: Wieder steht ein Attribut am Ende und kann sich prinzipiell auf beides beziehen: eyes convinced und younger moon. Letzteres würde vom Satzbau her nahe liegen, vom Sinnzusammenhang her dürfte aber diese pubertierende Liebe die Überredung und Verfinsterung bewirken.
Ein schönes Wortspiel: younger moon (als feststehender Begriff) und eclipsed.
Diese Liebe ist nicht tatsächlich, sondern nur "almost" belastet oder deformiert - weil das Manna = die wahre Liebe keinen solchen negativen Effekt hervorrufen kann?
Manna: Begriff aus dem Alten Testament (2. Buch Mose, Kapitel 16). Das Volk Israel war aus Ägypten geflohen, zog durch die Wüste, hatte Hunger, murrte über Gott; am nächsten Morgen lag das essbare Manna in der Gegend herum. Der Begriff wurde später Synonym für allerlei himmlische Speise oder "Götterspeise" (vgl. auch Ambrosia und Nektar bei den Griechen).
crucified my hate: Vom Wortgehalt her eigentlich nicht hinrichten (execute), sondern quälen (Harry Potter-Fans: Cruciatus Curse) oder opfern. Den Hass zu quälen scheint schwierig, ist es dagegen möglich, den Hass zu opfern?
[Prinzipiell ja, vgl. (ernst gemeint) Wikipedia: Posttraumatische Verbitterungsstörung = Wer hasst, leidet unter Ungerechtigkeit und ist nicht bereit, seinen Hass aufzugeben. Er hat ja ein Recht dazu und würde beim Aufgeben des Hasses dem Ungerechten damit indirekt Recht geben. Soll heißen: crucified my hate nicht als strafende Abtötung / Hinrichtung ergibt sehr wohl einen Sinn.]
word within my hand: Spontane Assoziation ist natürlich "Time And a Word" = ... and the word is love.

[Christliche Begriffe: "Wort" ist im Neuen Testament im Johannesevangelium und den "Briefen des Johannes" ein Synonym für Jesus und - da dieser wesenseins ist mit der Liebe - auch für die Liebe. Damit hätten wir innerhalb von zwei Zeilen drei biblische Begriffe. Auch der Sinn deckt sich mit der christlichen Botschaft: Hass aufgeben, dafür Liebe üben bzw. ins Herz aufnehmen; diese Liebe ist nicht menschlicher Natur und muss daher von Gott geschenkt werden.]
[Liebe: Andere Sprachen differenzieren zwischen verschiedenen Arten von "Liebe" = die körperliche Liebe, die freundschaftliche Liebe, die begehrende Liebe, die "hormonell induzierte" Liebe, die "bedingungs-lose" Liebe. Letztere dient nicht nur dem Christentum (agape) als Ideal, sondern auch dem Buddhismus (metta). Es geht darum, den anderen höher zu setzen als sich selbst, gleichzeitig etwas oder jemanden als "Sein an sich" und nicht aufgrund von dessen Eigenschaften oder Verhalten anzunehmen und zu lieben. Wird wichtig für die Deutung auf Part-Ebene.]

the reasons: Bietet mehrfache Deutungsmöglichkeiten. 1) Überlegungen über ... 2) ähnlich: Argumente für/gegen ... 3) Anlässe oder Beweggründe für ein bestimmtes Verhalten. Sehr schwierig ... speziell time gehört nicht unbedingt zu unseren Beweggründen = spricht für 1) oder 2). Andererseits handeln die gesamten "reasons"-Zeilen von unserem Charakter / Verhalten bzw. was uns dazu veranlasst = spricht für 3).


Sad courage claimed the victims standing still for all to see
As armoured movers took approach to overlook the sea
There since the cord, the license, or the reasons we understood will be


1. Wort-Ebene

sad: Betrübt / getrübt, traurig / trist.
courage: Courage als (Lebens-)Mut oder Tapferkeit.
claimed: Beansprucht, gefordert; als Verb: ab- oder einfordern, geltend machen, etw. beanspruchen.
victims: Opfer (von jmd. oder etwas).
for all (to see): alle Mal, allemal; hier nicht als Präposition + Gen/Dat. = trotz, dennoch.
armoured: Gepanzert, bewaffnet.
movers: Antragsteller, treibende Kraft, Triebwerk; technisch Kraft, Maschine; ein philosophisch bekannter Begriff ist z.B. Gott als unmoved mover = unbeweglicher Beweger.
took approach: Vorgehen, an etwas herangehen, zu etwas ansetzen i.S.v. etwas beginnen; auch: Lösungsansatz oder Lösungsweg.
overlook: etwas überschauen, überblicken; aber auch etwas übersehen i.S.v. nicht bemerken, über etwas hinwegsehen.
sea: Meer; aber auch: Seegang, Wellengang.
cord: Faden, Kordel, Gurt, Leine, Strick; auch Richtschnur, Maßband.
license: Erlaubnis, Freiheit, Berechtigung; auch: Unzucht, Zügellosigkeit.

2. Vers-Ebene

So lange es nicht an die Deutung / Übertragung dieser Metapher geht, ist die Satzaussage einfach: Es gibt movers, welche etwas bewegen oder eine Bewegung auslösen. Diese sind praktisch unbezwingbar (armoured), weshalb den Opfern dieser Bewegung der Mut verloren geht und sie (als Wortspiel) bewegungslos still stehen und zusehen müssen, wie ...
... overlook the sea: Die Kombination der Wortbedeutungen bietet vier Möglichkeiten:
1) Entweder überblicken die movers das weite / unendliche Meer,
2) oder sie nehmen dieses Meer nicht zu Kenntnis,
3) oder sie haben den Überblick auch über den hohen Wellengang,
4) oder sie nehmen den hohen Wellengang nicht zu Kenntnis.
Und dies kann noch mit took approach kombiniert werden: Versuchen die movers dies (als Intention) oder beginnen sie damit (als Tat).
Hier müsste nun bei acht Möglichkeiten doch für jeden eine passende Interpretation dabei sein ... ;-)

cord und license würde ich als gegensätzliches Begriffspaar deuten: "Fessel und Freiheit" - wobei angesichts der negativ gefärbten Verse davor auch "Zügel und Zügellosigkeit" denkbar wären, denn der Begriff "Freiheit" passt nicht unbedingt zu den mutlosen Opfern.

Im ersteren Fall sind es einfach die "reasons we don't understand", nun werden es (will be) seit dieser Erfahrung (since) - also künftig - die "reasons we understood" (Vergangenheit) sein. Ihr merkt, der Versaufbau wirkt sich langsam auf meinen eigenen Schreibstil aus ... ;-)

[Den Refrain mit seinen vielerlei Varianten lasse ich jetzt weg.]


Sudden call shouldn't take away the startled memory
All in all the journey takes you all the way.
As apart from any reality that you've ever seen and known.
Guessing problems only to deceive the mention,
Passing paths that climb halfway into the void
As we cross from side to side we hear the total mass retain.

1. Wort-Ebene

sudden: Plötzlich, überraschend.
call: Anruf, Berufung; Ruf, Zuruf.
take away: Etw. fortschaffen / trennen / wegnehmen / schmälern.
startled: Aufgeschreckt, erschreckt.
memory: Erinnerung, Gedächtnis.
all in all: Feststehender Begriff = Insgesamt, alles zusammen betrachtet.
all the way: Feststehender Begriff = in jeder Hinsicht, voll und ganz.
apart from: Als Präp. mit Dativ = außer(halb), abgesondert, abseits, für sich, separat.
guessing (problems): ahnen, annehmen, vermuten; bis hin zu raten / erraten.
deceive: Betrügen, irreführen, täuschen.
mention: Auszeichnung, Belobigung; oft auch: Erwähnung, Nennung (vgl. not to mention = ganz zu schweigen von).
climb: Viele Bedeutungen, alle i.S.v. hinauf- ...
halfway: Übergangs... / auf halbem Wege, halbwegs, Zwischenstadium.
void: Hier einfach Leere.
total mass: Gesamtmasse, vollständige Masse,
retain: Als Nomen = Zurück(be)haltung, Zurückstellung; als Verb: abstützen, anhalten, aufstauen, speichern, beibehalten, bewahren, etw. festhalten, fixieren ...

2. Vers-Ebene

Die ersten drei Zeilen sind von der Aussage her unproblematisch.
guessing problems: Mögliche Bedeutungen wären 1) Über Probleme rätseln 2) Probleme zu erahnen (sie sind vorhanden) 3) Probleme nur anzunehmen (ohne dass sie faktisch vorhanden sein müssten).
deceive the mention: Wenn wir hier von einer irreführenden Erwähnung ausgehen, müssten wir die o.g. Variante 3) mit den nur angenommenen (oder befürchteten) Problemen wählen.
Dies wiederum passt zu den paths into the void. Die immerhin bereits auf halbem Wege als Irrwege erkennbar sind. Wer auf halbem Wege umgekehrt, irrt nur zur Hälfte ...
Ganz interessant: Wenn wir anhand des Bisherigen wieder die Seite wechseln (zurück zu den Problemen), dann müsste die Schwere wieder zurückkehren (return). Hier nun im Text behalten wir jedoch die (frühere) Schwere bei (retain) - die wir aber doch mit Beginn des in Part 1 genannten Erlebnisses hinter uns gelassen haben. Chris Welch berichtet nun in seinem Buch von einem Gespräch mit der Band, wonach der Text ursprünglich "return" gelautet habe, dann aber aus klanglichen Gründen in "retain" abgeändert wurde.

3. Part-Ebene

[Exkurs: Meditation. Um die weitere Deutung zu verstehen, muss ich doch kurz die Abläufe in einer (weltanschaulich übrigens neutralen) Meditation erläutern. Dies ist jedoch keine Anleitung! Wer es ausprobieren will (bzw. trotz YES-Fan noch nicht ausprobiert hat ...), darf im Internet nach Anleitungen oder einem Zen-Lehrer oder Zen-Meister in der Umgebung suchen. ;-)
Also: Meditation heißt still sitzen, Klappe halten, nix denken. :-) Geübt wird extreme Konzentration, z.B. auf den Atem, bestimmte Körperteile usw. Dadurch lernt der eigenen Geist, nicht dauernd zu plappern oder zu jeder Sinneswahrnehmung oder Empfindung seinen Kommentar zu liefern. Der Geist wird so im Lauf der Übung zum Spiegel, der alle Sinnesreize, Gefühle, Gedanken wahrnimmt, ohne in seinem eigenen Wesen davon betroffen zu sein. Hierdurch kann alles, was auftritt, neutral wahrgenommen, betrachtet, analysiert und dann einfach akzeptiert werden. Akzeptiert meint hier nicht "befürwortet" oder "für gut befunden werden", sondern einfach "stehen lassen".
Häufig stellt man dabei fest, dass sich die ersten wahrgenommenen Phänomene um das eigene Ich drehen - meine Gedanken, meine Gefühle, meine Probleme usw. Kommt man davon irgendwann ab, taucht die nächste Umgebung auf, Menschen, die wir besonders lieben, hassen, ... Irgendwann dann weitet sich der Blick auf die ganze Welt, die Menschen bzw. die Menschheit. (Und noch später können komische oder hochinteressante Dinge geschehen, aber das würde etwas Größeres.)
Nur so viel sei schon vorab angedeutet: Womit beschäftigen sich Part 2, 3, 4 (in eben dieser Reihenfolge)? ;-) ]


Jetzt zur Deutung selbst:

Nach dem in Part 1 Erlebten sitzen wir also wie Siddhartha am Fluss (des Lebens), sind dem bisherigen Leben und ggf. einem auftauchenden Selbsthass oder gar einer drohenden Lebensmüdigkeit entkommen und meditieren nun. Unsere ersten Erfahrungen drehen sich dabei um das eigenen Ich.
Aus der Vergangenheit taucht das Drama der Pubertät auf, nicht nur die berühmte "rosa Brille", sondern auch die hormonelle Liebe, das Begehren eines anderen, das ganze Gefühlschaos.
Nun haben wir aber plötzlich eine Gabe vom Himmel erhalten und unsere Sicht ändert sich. Wir erkennen das Wesen der wahren bedingungs-losen Liebe, das Einssein mit allen Lebewesen und der Schöpfung. Hass braucht aber ein Gegenüber, im Einssein verliert er seine Funktion, wir können ihn also opfern im Dienste der neuen Erkenntnis. Dies tut manchmal dolle weh - sogar aus der neuen übergeordneten Sicht. Aber wir halten die Himmelsgabe, das Wort, das Ideal der agape / metta fest in unserer Hand.

Wir erleben in der Meditation nun beides, unser Hirn mit seinen Prägungen, das an den alten Vorstellungen festhält - und die neue Erkenntnis, dass alles anders ist. Diese beiden Sichten kommen sich manchmal in die Quere. Logisch wäre es, der neuen Erkenntnis zu folgen, aber der Neandertaler in uns verlangt sein vermeintliches, über lange Generationen erworbenes Recht.
[Als christliches Beispiel: Im Brief des Paulus an die Römer 7, 15-24 findet sich ein interessanter Abschnitt zum Thema "Ich bin mir selbst ein Rätsel".]
[Meditation geht übrigens davon aus, dass sich viele Punkte und Fragen gerade NICHT mit dem Verstand oder der Logik lösen lassen, im Gegenteil, dies behindert die wahre Erkenntnis. Klassisches Beispiel sind die sog. "Koans" = vom Denken her "unsinnige" Fragen des Zen-Meisters: "Wie lieblich klingt das Klatschen einer Hand?".]


Ich bin abhängig von der Zeit, sie schenkt mir, nimmt mir - und oftmals nicht das, womit wir rechnen oder was wir begehren. Die Zeit verändert uns unmerklich. Es bedarf anderer, die uns nach längerer Zeit wiedersehen und meinen "Mensch, hast Du dich verändert". Oder als Beispiel zum Stichwort Liebe ... nach 30 Jahren triffst Du die Traumfrau Deiner Pubertät wieder, eine unsportliche Hausfrau und Mutter, deren einst so brillianter Geist sich nur noch um Windeln und den Job in der Stadtbücherei dreht ... und plötzlich haben sich all die Erinnerungen und großen Gefühle im Lauf der Zeit aufgelöst ... wie Tränen im Regen (stimmt, ich bin auch BR-Fan ...).
So gibt es mich als Persönlichkeit, Prägung, Verhalten, dazu die (Un)Logik, die Zeit - und all dies sind Beweggründe, die mich antreiben und verändern, ohne dass ich oftmals den tieferen Sinn in mir oder in einem übergeordneten Plan eines Schicksals oder eines Gottes verstehe. Leider ... oder manchmal Gottseidank???

Auf der anderen Seite gibt es die Triebe des Unbewussten in uns. Unser Bewusstsein ist eine Maus, welche meint, den Elefanten unseres Unbewussten zu zähmen und reiten zu können. Diese Triebkräfte, die uns bewegen, sind kurzsichtig, sie überblicken nicht den hohen Wellengang, der damit einhergehen konnte (Stichwort: Der Morgen danach ...). Einerseits legen sie uns Zügel an und führen uns in Richtungen, die wir bei normalem Menschenverstand nicht einschlagen würden. Andererseits schenken sie uns auch eine Zügellosigkeit, die uns ausleben lässt.
[Übrigens hat auch das Unvernünftige im Leben seine Bedeutung; "Lasst uns heute einen absolut unvernünftigen Tag leben" (Paulo Coelho) ... Und ich rauch jetzt erst mal eine ;-) ]
Seit uns dies einmal wirklich bewusst geworden ist, wir diese Treibkräfte verstanden haben, werden diese für uns nicht mehr nur unbewusste Triebe, sondern auch durchaus bewusst Zügel und Zügellosigkeit zugleich sein.

Nun folgt in den weiteren Versen ganz praktisch etwas Meditationstechnik (in der durchaus auch Gefahren lauern):
Sind nun gerade beim Thema Liebe (solche oder solche) alte Erinnerungen aufgeschreckt, sollten wir diese einfach "stehen lassen" und nicht durch überraschende oder plötzlich auftauchende Zwischenrufe aus unserem Inneren blockieren lassen. Weder Moral noch schlechtes Gewissen noch begehrendes / melancholisches / hassendes Aufpoppen sollte unsere Konzentration ablenken und unserem Spiegel seinen unberührten Charakter nehmen.
Wir müssen also "dran bleiben", dabei durchaus darauf gefasst sein (und dürfen uns aber auch gespannt darauf freuen), dass uns diese Reise mit all ihren Inhalten weit, weit durch Leben und Menschheit führen kann. Weit, weit weg aber gerade nicht von aller Realität, sondern hin zu jener erweiterten Sicht von Realität, wie wir sie bisher noch niemals gesehen oder erlebt haben.

Im Spiegel unserer Meditation mögen wir gelegentliche Probleme vermuten, der Geist, unsere Erinnerungen, unsere neurologischen Prägungen melden sich, der Verstand will ordnen, Ursachen und Kausalzusammenhänge finden, Entschuldigungen und noch vieles mehr. Aber diese Einflüsterungen (vgl. das hear in der letzten Zeile!) sind nur irreführend. Denn nicht vergessen: Wir bleiben der neutrale, unberührte Spiegel. Ansonsten klettern wir teilweise steile und unbeschwerliche Pfade hinauf, die auf halber Strecke im Leeren landen. Und das wollen wir ja gerade vermeiden ... denn wenn wir hier wieder von der Spiegel-Seite in unseren normalen unachtsamen Alltag wechseln, werden wir die bisherige unglaubliche Schwere unseres alltäglichen Lebens wieder beibehalten (oder - Stichwort return - sie kehrt wieder zurück.)
[Aber die gute Nachricht: Ist die Konzentration oder dieses Bewusstsein weg, braucht es keinen umständlichen Rückweg oder eine diffizile Reue- oder Reinigungs-Prozedur. In der Erkenntnis "Huch, die Achtsamkeit ist weg" zeigt sich bereits wieder die zurückgekehrte Achtsamkeit - und man kann sofort wieder neu beginnen. Tausende Male, ist bei jahrelanger Meditationsübung normal. Widerfährt so auch dem geübtesten Zen-Meister. Also: Frust ist fehl am Platze, ohne Umwege zurück auf Los, wir gönnen uns ja schließlich selbst etwas Gutes.]
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