Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

veröffentlicht: 13.09.1972

Jon Anderson ; Chris Squire ; Bill Bruford ; Steve Howe ; Rick Wakeman

TempusFugit
Beiträge: 14
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 15:10

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von TempusFugit »

Letzter Beitrag der vorhergehenden Seite:

Aprilfrost hat geschrieben:Als ich den Text eben noch mal las, fielen mir die zahlreichen Fragezeichen(??) auf. Fällt Euch was zu diesen Textstellen ein? Nur heraus damit.
Dann will ich mal versuchen, ob ich ein paar Fragezeichen tilgen kann ...

Ich denke, Hermann Hesses "Siddhartha" erweist sich hier tatsächlich als Fundgrube für eine tiefergehende Interpretation des Songtextes ("Song" klingt irgendwie abwertend - "Close To The Edge" ist ein Epos!). In Bezug auf "I get up, I get down" stieß ich bei Hesse auf folgende Stelle im Kapitel "Am Flusse":

Ja, seltsam war sein Geschick! Es ging abwärts mit ihm, und nun stand er wieder leer und nackt und dumm in der Welt. Aber Kummer konnte er nicht empfinden, nein, er fühlte sogar großen Anreiz zum Lachen, zum Lachen über sich, zum Lachen über diese seltsame, törichte Welt.
"Abwärts geht es mit dir!" sagte er zu sich selber und lachte dazu, und wie er es sagte, fiel sein Blick auf den Fluss, und auch den Fluß sah er abwärts gehen, immer abwärts wandern, und dabei singen und fröhlich sein.


So viel zum "I get down" und zum "Down by the river" - Das "I get up" erschließt sich wenige Zeilen später:

Ist es nicht so, als sei ich langsam und auf großen Umwegen aus einem Mann ein Kind geworden, aus einem Denker ein Kindermensch?

Also zuerst der Aufstieg zum Mann, zum Denker und dann der Abstieg zum Kindermenschen - leer und nackt und dumm in der Welt. - I get up, I get down ...

"Close to the edge" - "Edge" ist die Kante, der Point of no return. Hier am Fluss (just by the river) entscheidet sich das künftige Schicksal von Siddhartha. Noch einmal Hesse:

Mit verzerrtem Gesicht starrte er ins Wasser, sah sein Gesicht gespiegelt und spie danach. In tiefer Müdigkeit löste er den Arm vom Baumstamme und drehte sich ein wenig, um sich senkrecht herabfallen zu lassen (!!!) , um endlich unterzugehen. Er sank, mit geschlossenen Augen, dem Tod entgegen. ... Und im Augenblick, da der Klang "Om" Siddharthas Ohr berührte, erwachte sein entschlummerter Geist plötzlich, und erkannte die Torheit seines Tuns. ...

Siddhartha wollte sich töten, weil er mit der Schande seines bisherigen Lebens ("the depths of your disgrace") nicht zurechtkam und hörte im letzten Moment eine Stimme ("A seasoned witch can call you"), die ihn dazu brachte, sein Leben neu zu überdenken und neu zu arrangieren ("rearrange your liver", wobei "liver" wohl auch im Zusammenhang mit "be a fast liver" = ein flottes Leben führen bzw. mit "loose liver" = liederlicher Mensch zu denken ist) hin zu einem Zustand, der seiner geistigen Würde gerecht wird ("the solid mental grace"), ein Leben, das alles andere als flott und liederlich ist. Zunächst muss er jedoch seinen Selbsthass überwinden ("I crucified my hate"). Hesse schreibt:

Wie hasste ich diese Welt der Reichen, der Schlemmer, der Spieler! Wie habe ich mich selbst gehasst, dass ich so lang in dieser schrecklichen Welt geblieben bin! ... Dies aber habe ich gut gemacht, dies gefällt mir, dies muss ich loben, dass es nun ein Ende hat mit jenem Hass gegen mich selber, mit jenem törichten und öden Leben!

Allerdings hat Siddhartha kurz zuvor seine Frau verlassen, die nun allein und schwanger zurückbleibt. Wie wird sie sich fühlen? ("You can clerly see the lady sadly looking") Vielleicht fühlt sie sich schuldig, dass er sie verlassen hat? ("Saying that she'd take the blame") Er "kreuzigt" seinen Hass, aber was bleibt ihr übrig, als ihre Gefühle nun ebenfalls zu "kreuzigen"? ("For the crucifixion of her own domain") Zu spät! ("too late") Zwar weint hier eine Frau, aber wieviele Millionen Frauen werden denn weltweit betrogen und wie viele potenzielle Siddharthas betrügen sich wohl selbst mit einem Lotterleben? ("How many millions do we deceive each day?")

Am Fluss ereignet sich später die Erleuchtung durch Einsicht in die Dinge wie sie sind ("the reasons we understood will be"). Bei Hesse liest sich das so:

Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluss, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung.

Mit dieser Einsicht - die Welt in einem Wort, oder "held the word within my hand" ist das Werk getan. Jetzt ist er ganz geworden. Hesse:

In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden.

"Now that it's all over and done,
Called to the seed, right to the sun.
Now that you find, now that you're whole."

Nun ist alles getan und es ist vorbei. Die Saat ist gesät, sie wächst zum Licht, zur Erleuchtung. Nun, da du es gefunden hast, nun bist du ganz, heil und vollkommen. Die Jahreszeiten ziehen weiterhin an dir vorüber und du steigst weiterhin auf und ab, aber - so lässt sich der Gedanke weiterspinnen - das tangiert dich nicht mehr, weil du erleuchtet bist. Das Leben wird abgelebt und ausgelebt bis zum Ende.

Close To The Edge - ein Meisterwerk!
Benutzeravatar

Topic author
Aprilfrost
Keymaster
Beiträge: 9265
Registriert: Mo 7. Apr 2008, 16:20
Has thanked: 164 times
Been thanked: 112 times

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilfrost »

Meisterlich auch Deine Gedanken dazu, TF. Danke für die Ergänzungen, die ja selbst fast eine Interpretation für sich sind. Da wird einiges klarer, was in CTTE ohne Hintergrundwissen nicht zu verstehen ist. Ich glaube, ich sollte mal wieder Siddharta aus dem Bücherregal holen, wo es seit über 30 Jahren ungeöffnet steht. Hesse war mal einer meiner Helden, später sagte mir sein Stil nicht mehr zu. Aber der Mann hatte was zu sagen.

number nine
Beiträge: 707
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 22:27

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von number nine »

Vorweg: wirklich großartige Interpretation. Hut ab! Danke für die Mühe! Bitte mehr davon.

Eine Textzeile, zu der ich etwas anzumerken habe, ist die folgende, dies aus dem Grunde, weil sie mir seit Jahren sehr sehr gefällt.
Aprilfrost hat geschrieben: On the hill we viewed the silence of the valley,
Vom Hügel aus sahen wir die Stille des Tals

// Vielleicht ein biblischer Bezug; Mose steht auf einem Hügel und sieht das gelobte Land, das er niemals betreten wird
Hier würde ich keinen biblischen Bezug sehen. Hier würde ich die erhöhte Position auf dem Hügel als Bild für einen "höheren" Bewusstseinszustand sehen. Und wenn man dann in diesem die Welt/das Tun und Handeln der Menschen betrachtet, alles ein wenig ferner und weniger wichtig und friedlich und schön erscheint. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jon hier teilweise aus eigener Erfahrung spricht ...
Hate takes a lot of energy - and i'm savin' mine up for all the good shit that's comin' my way 'cause i'm a good person and i deserve good shit in my life.

TempusFugit
Beiträge: 14
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 15:10

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von TempusFugit »

@ Aprilfrost:

Danke für das Lob, dass ich gern zurückgebe, denn erst deine Vorleistung hat mich dazu gebracht, auf die Bezüge zu Siddhartha zu achten. Also auch von meiner Seite noch einmal ein ganz großes Dankeschön für deine Interpretation dieses Meisterwerks! :-)

@ number nine:

Nun ja, biblische Bezüge gibt es im Text mehrere, z.B.:

"Then taste the fruit of man recorded losing all against the hour." (Anspielung auf den Sündenfall - Verlust des Paradieses durch das Essen der verbotenen Frucht!)

oder hier:

"It changed as almost strained amidst clear manna from above." (Das Manna vom Himmel zur Rettung des auserwählten Volkes vor dem Hungertod in der Wüste!)

Der Satz mit dem Hügel und der Stille des Tals steht im Kontext zu dem Mann, der den Arm ausstreckt und alles über die Menschheit offenbart. Die Deutung als Bezug zu Moses, der von einem Engel das verheißene Land gezeigt bekommt, erscheint mir nicht abwegig, auch wenn deine Interpretation ebenfalls plausibel ist.

Meine Deutung ist, dass hier die Schluss-Szene aus Siddhartha textlich verdichtet wurde, in der Siddharthas Jugendfreund Govinda ein letztes Mal mit ihm zusammentrifft. In einer Vision gewährt Siddhartha - der übrigens still in sich hineinlächelt ("smiled a whisper"!) - Govinda einen Einblick in seine Weisheit, die ihm der Fluss gelehrt hat. Darin kommen die Erinnerungen an die vielen vorgeburtlichen Existenzen vor ("cycles of the past"!), die bis dahin gemäß des Karmas abgelebt wurden.

Das Gesamtwerk ist übrigens so angelegt, dass das Ende zugleich wieder ein Neuanfang sein kann, denn die Flussgeräusche, die das Werk ausklingen lassen, bilden zugleich die Einleitung, so dass hier das zyklische Weltbild der indischen Philosophie einen passenden Ausdruck findet. Der Fluss als Metapher für den anfanglosen und endlosen Strom des Werdens illustriert hier sehr schön, dass sich alles, was geschieht, in einen Strom einbettet, der weiterhin so vor sich hin fließt.
Benutzeravatar

Topic author
Aprilfrost
Keymaster
Beiträge: 9265
Registriert: Mo 7. Apr 2008, 16:20
Has thanked: 164 times
Been thanked: 112 times

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilfrost »

Hilf mal eben Tempus F.
ist es nicht so, dass Siddharta und Govinda eigentlich dieselbe Person ist?
Ich muss das Buch unbedingt bald wieder lesen und dabei CTTE in Endlosschleife hören.

TempusFugit
Beiträge: 14
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 15:10

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von TempusFugit »

@ Aprilfrost:

Govinda ist der Jugendfreund von Siddhartha. Nach der Begegnung mit dem "echten" Buddha bleibt Govinda bei diesem und wird Mönch, während Siddhartha daraufhin weiterzieht und sich von seiner Suche nach Erlösung abwendet. Er begibt sich daraufhin in die Stadt, wird ein reicher Kaufmann und gibt sich dem Genussleben hin. Mehr verrate ich nicht ... ;-)

Viel Spaß beim erneuten Lesen!

habu
Beiträge: 101
Registriert: Di 12. Jul 2011, 01:43

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von habu »

Gratulation Leute! Ihr habt es echt geschafft: ich war heute in der Bibo und habe Hesses Siddhartha entliehen, das schiebe ich schon ein paar Jährchen vor mir her... (habu = Lesemuffel) :oops:

number nine
Beiträge: 707
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 22:27

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von number nine »

habu hat geschrieben:Gratulation Leute! Ihr habt es echt geschafft: ich war heute in der Bibo und habe Hesses Siddhartha entliehen, das schiebe ich schon ein paar Jährchen vor mir her... (habu = Lesemuffel) :oops:
Nun, ich will Dir nicht den Spaß verderben, aber Siddhartha ist nicht sonderlich geeignet als erstes Buch von Hermann Hesse, wenn man ihn noch nicht großartig gelesen hat. Da empfehle ich eine weiter ausgeholte Herangehensweise. Weil mit Siddhartha ist es nicht getan! Ich empfehle daher, zunächst z. B. Narziss und Goldmund zu lesen. Weil, weißt Du ohne Hesse ein wenig zu kennen, könnte Siddhartha ein gleichgültiges Schulterzucken hinterlassen. Das würde aber diesem großartigen Schriftsteller in keiner Weise gerecht! Ich empfehle daher dringend, ein anderes Buch dieses Autors voranzustellen. Am besten zwei!!!

Hesses Sicht der Dinge wird in anderen Büchern besser dargetan. Nicht falsch verstehen, Siddhartha genießt seinen Ruf völlig zurecht! Aber es ist sehr verdichtet und gewissermaßen die Spitze des Eisberges (eigentlich ist die Spitze des Eisberges die Morgenlandfahrt, aber von der will ich mal gar nicht reden).

Unterm Rad oder/und Narziss und Goldmund bitte vorher lesen. Ich würde sogar so weit gehen und das Glasperlenspiel auch noch vor Siddhartha zu stellen. Es lohnt sich! Ohne Hesse-Kontext ist Siddhartha nur die Hälfte wert und kommt nicht zum Scheinen!

Wenn Siddhartha hier wirklich zugrunde liegt, geht es nicht nur um dieses Buch selbst, sondern um eine Anschauung, die Hesse vertritt, welche in diesem Roman jedoch sehr zur Geltung kommt.
Hate takes a lot of energy - and i'm savin' mine up for all the good shit that's comin' my way 'cause i'm a good person and i deserve good shit in my life.
Benutzeravatar

Topic author
Aprilfrost
Keymaster
Beiträge: 9265
Registriert: Mo 7. Apr 2008, 16:20
Has thanked: 164 times
Been thanked: 112 times

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von Aprilfrost »

Bei mir ist es, wie gesagt, schon (über) dreißig Jahre her, dass ich Siddharta las. Aber wenn ich mich recht erinnere, war das meine "Einstiegsdroge" zu Hermann Hesse. Selbst der vielgerühmte Steppenwolf hatte mich dann nicht mehr so sehr begeistert, wie das blaue Suhrkamp-Taschenbuch. Das Glasperlenspiel habe ich, glaube ich, gar nicht zu Ende gelesen.

number nine
Beiträge: 707
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 22:27

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von number nine »

Aprilfrost hat geschrieben:Das Glasperlenspiel habe ich, glaube ich, gar nicht zu Ende gelesen.
[smilie=sign1_pueh.gif]

Was für ein Sakrileg!!! :shock:

;)
Hate takes a lot of energy - and i'm savin' mine up for all the good shit that's comin' my way 'cause i'm a good person and i deserve good shit in my life.

TempusFugit
Beiträge: 14
Registriert: Mi 29. Jun 2011, 15:10

Re: Close to the Edge - Versuch einer Interpretation

Beitrag von TempusFugit »

Aprilfrost hat geschrieben:Das Glasperlenspiel habe ich, glaube ich, gar nicht zu Ende gelesen.
Ich auch nicht. Irgendwann so nach etwa 100 Seiten wurde es mir zu langweilig. Siddhartha hingegen ist kurz, knapp und prägnant. Nach Hesses eigenem Bekunden wollte er damit seine Sicht des Christentums darlegen. Dass er dazu ausgerechnet eine indische Dichtung verfasst hat, die u.a. den historischen Buddha enthält, erkläre ich mir zum einen mit der damals aktuellen Modeerscheinung des Neo-Buddhismus (Vertreter u.a. Paul Dahlke) und zum anderen mit der Indien-Reise Hesses, die er etwa 10 Jahre vorher absolvierte. Die Abgrenzung zum Buddhismus wird besonders in der Schluss-Szene deutlich, wo auffällig oft von der Liebe zu den Dingen, zu den Menschen und zu der Welt die Rede ist - etwas was dem Buddha völlig abging, weil nach seiner Intention es wichtig ist, sich von den Bindungen an die Welt zu lösen. Ich vermute, dass hier Hesse einen Dissens zu seinen eigenen Anschauungen sah, den er schriftstellerisch umsetzen wollte.
Antworten

Zurück zu „Close To The Edge“