[REVIEW] YES - Close to the Edge (1972)

veröffentlicht: 13.09.1972

Jon Anderson ; Chris Squire ; Bill Bruford ; Steve Howe ; Rick Wakeman
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JJG
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[REVIEW] YES - Close to the Edge (1972)

Beitrag von JJG »

Close To The Edge

Nur neun Monate nach dem letzten Album sollte schon das Nächste auf dem Markt kommen. Für heutige Verhältnisse fast unvorstellbar.
Die Band hatte ihren Zenit erreicht. Meister Anderson hatte nun vier Virtuosen um sich geschart und alle gingen an das bis dato aufwändigste Album in der Bandgeschichte.
Jeder wollte seine Ideen einbringen, die Kompositionsschwerpunkte hatten sich aber auf das Tandem Anderson/Howe verschoben.
Die Studioarbeit empfanden alle Musiker als sehr anstrengend. Rückblickend auf diese Zeit sind sie aber ausnahmslos mit dem Werk zufrieden.

Lange Stücke waren in dieser Zeit in. Dennoch hatte keiner in der Band tatsächlich vor ein Stück zu schaffen, welches eine ganze Plattenseite ausfüllte. Es ergab sich so. Während man auf der letzten Scheibe viel Wert auf Individualität legte, waren nun alle interessiert auch bei den Inputs der anderen mitzudiskutieren. So hatte sich die Band eine Plattform geschaffen, die sehr demokratisch war, aber auch sehr zeitaufwändig.

Während andere im Bandgefüge damit beschäftigt waren die Spielweise an ihren Instrumenten zu verbessern und die Vielfalt derer zu vergrößern, musste Anderson sich auf das konzentrieren was er beherrschte. Er war der große Denker und Lenker oder entwickelte die Konzepte und Strategien. Seine Mitmusiker bezeichneten Ihn deshalb hinter seinem Rücken als Napoleon. Und diese Rolle füllte er auch aus. Seine Kreativität als Sänger bestand auch darin die gesungenen Worte nicht nur als Texte oder Textfragmente zu verstehen. Vielmehr benutzte er viele Worte auch nur wegen deren Klang. Squire forderte Ihn deshalb auch auf, den Textautor auf der Platte als „Jan Onderson“ zu titulieren.

Selbst seinen Mitstreitern offenbarten sich erst später die Themen die der Sänger durch seine Stimme von sich gab. Eddie Offord musste als Produzent Vogelstimmen und Wassergeräusche aufnehmen und als Intro/Outro – Effekt mit der Musik abmischen. Im Hauptwerk „Close To The Edge“ wurden diese Effekte aber immer der Musik untergeordnet. Andererseits konnte er dadurch die Themen besser beschreiben die er besang. Das Titelstück vermengt solche Themen wie die gesamte Lebenszeit eines Menschen von seiner Geburt bis zum Tod , die Entstehung des Lebens selbst , die Auseinandersetzung mit den Kirchen als Institution oder die erhabenen Augenblicke im Leben. Natürlich wurde die Band dadurch inzwischen durch viele Musikkritiker angefeindet.

Anderson verfolgte damit aber noch ein anderes Ziel. Er wollte nicht einfach Botschaften verkünden, sondern vor allem den Zuhörer zum Nachdenken anregen und ihn auf eine Reise mitnehmen. Die erfolgreiche visuelle Umsetzung erfolgte durch die Plattencover von Roger Dean und später durch den einstündigen Konzertfilm.

Der Hörer wird zunächst von der Natur eingefangen die von den Keyboards untermalt wird, bis die restlichen Instrumente aufeinander einspielen. Die Rhythmen werden durch kurzzeitige Vokalfetzen unterbrochen bis zur Auflösung des Prologs. Hernach wird der Zuhörer in sanftere Galerien geführt. Im ruhigen Mittelteil hört man Wassertropfen von den Stalaktiten herunterfallen. Der dramatische Aufbau des Stückes wird über einen sanften mehrstimmigen Vocalpart zum grandiosen Ende hingeführt.
Beachtenswert ist auch der Umstand, dass der Schlussteil aus einem Gitarrenriff von Steve basiert. Im Mix ist die Gitarre dann kaum noch hörbar ...

Als sie dann nach einer langen Zeit endlich fertig waren hatten sie ein Meisterwerk geschaffen. Es hat maßgeblich andere Musiker, auch von anderen Branchen, beeinflusst.
Für Bill Bruford war damit die Zeit für eine Veränderung gekommen. Er wollte sich in eine andere Richtung weiterentwickeln, aber dafür musste er zahlen ...

Das Management verlangte eine hohe Summe für die Auflösung seiner Verträge mit der Band.

Die zweite Plattenseite wurde durch zwei Stücke verwirklicht. Zum einen das ebenso vierteilige „And You And I“ und als Abschluss „Siberian Khatru“.

Bei „And You And I“ wurde auch wieder auf akustische Gitarren zurückgegriffen.
Rick Wakemann bezeichnet dieses Stück auch als eine Minisuite.

Zu dieser Zeit gab es kaum hochwertige Stimmgeräte für die zwölfsaitigen Gitarren. Da Steve ein Pedant bei dieser Tätigkeit ist, war er ständig damit beschäftigt zu tunen . In einem unbeobachteten Augenblick forderte Anderson den Produzenten auf, dabei mitzuschneiden. So entstanden die Anfangstöne dieses Stückes. Es ist nicht minder komplex als das Titelstück.

Die Instrumente werden sparsamer eingesetzt und die Stimme dominiert große Teile des Titels. Auch hier sind die Anleihen an die klassische europäische Musik deutlich hörbar. Yes haben es geschafft die damalige Rock- oder Beatmusik in neue Ebenen zu bringen. Die Instrumente folgen nicht den eintönigen Strukturen, die man allzu oft bei Bands der damaligen und heutigen Zeit hört. Es scheint so, als wurden klassische Stücke im Stile eines Sibelius oder Vivaldi geschrieben und mit modernen Mitteln instrumentiert.

Akustische Gitarrenakkorde wechseln sich mit sphärischen Klängen ab. Die Keyboards verschmelzen mit der Rhythmusfraktion zum Orchester. Die Instrumente erzählen ihre Geschichten und werden mit dem Songtext ausbalanciert und offenbart. Man geht auf die Reise, die beim „Du und Ich“ beginnt und endlose Felder überfliegt, Flüsse und Täler überquert und da endet, wo alles beginnt. Beim „Du und Ich“.

Die Erhaltung der Natur, die Auseinandersetzung der Menschen mit ihr und die Rückkehr zu ihrem Ursprung sind also nicht nur Thema im Titelsong. Anderson sieht seine „Lyrics“ als Visionen bestehende Zustände auf das Wesentliche unseres Daseins zu fokussieren.

Der Sänger schafft es auch den Schlagzeuger in die kompositorische Tätigkeit einzubinden. Squires Bassspiel ordnet sich völlig dem Song unter, freie Läufe findet man nicht.
Das Stück wird durch die Rückkehr zum Ausgangsthema beendet.

Steve Howe sieht darin immer ein kleines Manko für eines der besten Stücke, die die Band je herausgebracht hat. Zitat „Wir haben bis heute dafür keinen richtigen Schluss gefunden“.
Aber vielleicht ist das für den Hörer das Besondere ! Es gibt kein Ende nur „Und Du Und Ich“.

Hernach wird man durch die brachialen Riffs und Akkorde der Gitarre und einen treibenden Basslauf aus einen Träumen gerissen und eine neue Reise beginnt. Nur diesmal schneller, atemberaubender.

„Siberian Kathru“ ist unterwegs... Aber wer oder was soll dieser „Kathru“ eigentlich sein ? Eine Sagengestalt, ein stolzer Greifvogel, der seine Krallen zeigt ? Der Songtext ist wohl einer der mystischsten Texte, die Anderson je geschrieben hat. Natürlich wurde er immer wieder diesbezüglich befragt und kritisiert ...

Soll dieser Kathru nun den Winter darstellen ? Manchmal machte der Sänger auch Andeutungen, dass eigentlich der „Sibirische Sommer“ gemeint sei. Trotzdem hat er dieses Rätsel gelöst ! Oder auch nicht ? Kathru bedeutet nach Andersons Auskunft „As you wish“. Der Zuhörer kann sich also aussuchen, um was es sich letztendlich handelt.

Der Song wird wesentlich durch die elektrischen Gitarren und die Keyboardläufe vorangetrieben und Chris zelebriert sein melodiös abgesetztes Bassspiel.

Für Yes entwickelte sich gerade dieser Song zum genialen Opener der Konzerte, der sich nahtlos an Stawinskys Feuervogelfinale anfügte.
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

Saaldorf

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Re: Rezi: Close To The Edge

Beitrag von MX 2 »

Existierte es einen Lehrstuhl für "Yes", gäbe es nur einen Kandidaten, dem man den Ruf für diese ordentliche Professur erteilen könnte ;).

ich würde dem Album 10 Punkte geben, weil drei gute, geschlossene, kurzweilige, auf den Punkt gebrachte Longtracks, vielleicht das beste Prog-Studioalbum überhaupt.
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Aprilfrost
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Re: Rezi: Close To The Edge

Beitrag von Aprilfrost »

Wer die Berge liebt, wird an diesen Clips mit Sicherheit Seine Freude haben.

[youtube]Wpueos4Ftqc&feature=fvwrel[/youtube]
[youtube]P2QC1-AYU9I[/youtube]

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Re: Rezi: Close To The Edge

Beitrag von Member Y »

Aprilfrost hat geschrieben:Wer die Berge liebt, wird an diesen Clips mit Sicherheit Seine Freude haben.

[youtube]Wpueos4Ftqc&feature=fvwrel[/youtube]
[youtube]P2QC1-AYU9I[/youtube]
Als Naturliebhaber kann man nur beeindruckt sein. Sehr schöne clips, "Stay Frosty."
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rowoma
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Re: [REVIEW] YES - Close to the Edge (1973)

Beitrag von rowoma »

Doug Helvering, ein zeitgenössischer amerikanischer Komponist, macht sich und uns die Freude, ein paar fachkundige kompetente Kommentare zu verschiedenen Werken unterschiedlicher Künstler abzugeben, hier nun zu "Close to the Edge"- macht mir immer sehr viel Spaß, seine kompositionstechnischen Bemerkungen (aber auch zu den kryptischen Texten ;-)) hierzu zu verfolgen. Ein cooler Typ ist er noch dazu.




hier seine offizielle Seite:


http://www.rdouglashelvering.com
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JJG
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Re: [REVIEW] YES - Close to the Edge (1972)

Beitrag von JJG »

Denkwürdig 50 Jahre "Close to the Edge" am 13.09.2022 und meine Tochter wird am 13.09. - 22 Jahre alt (also in weniger als einer Stunde).
Alles Zufall?
"We are truth made in heaven, we are glorious" (Anderson/Stolt 2016)

Saaldorf
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