[REVIEW] Rick Wakeman - RETRO (2006)
Verfasst: So 25. Mär 2012, 16:53
Ein Review zu Rick Wakemans "RETRO" Album...
.... oder: Wozu ein Umzug gut sein kann
von MelloKey
Manche Ideen kommen spontan. Oder jemand anderes "stupst" einen an. Die Idee zu "RETRO" entstand im Jahr 2006, als Rick seinen Wohnsitz von der Isle of Man nach England, aufs Festland, zurückverlegte. Sein gesamtes musikalisches Equipment war bereits in Container verpackt, und als es auf den Lastwagen verladen und die Container nach und nach nochmal geöffnet wurden, um ihren Inhalt zu überprüfen, fiel Ricks wesentlich jüngerem Co-Produzenten Erik Jordan auf, dass er viele dieser Keyboards nie zuvor gesehen hatte, so dass er sich Kommentare wie "Was ist das denn?", "Das muss ja älter sein als ich!" "Wann hast du das zum letzten Mal angeschlossen?" nicht verkneifen konnte.
Bei einer Teepause während des Verladevorgangs schlug Jordan, offenbar fasziniert von den "alten Kisten", Rick dann vor, ob dieser nicht ein Album mit dem Vintage-Equipment aufnehmen wolle. "Es wäre doch großartig, ein Album nur mit Uralt-Keyboards aufzunehmen. Kein MIDI, kein Sequenzing." Rick ließ sich offenbar nicht lange bitten, so dass ich davon ausgehe, dass diese ungewöhnliche Idee ihn auch gleich ansprach, und raus flogen MIDI und Sequenzer und all der andere heute standardmäßig verwendete moderne "Schnickschnack". Übrig blieben die teils uralten Keyboards, dessen Durchschnittsalter, nach Ricks eigener Aussage, 35 Jahre betrug und von denen das jüngste Keyboard bereits 25 Jahre alt war. Ebenso lange waren die Geräte auch nicht mehr eingeschaltet gewesen.
Rick entdeckt die Geräte nach langer Zeit auf seinem Dachboden:
Rick fügte seinen Kompositionen für das Album Gesangsparts hinzu, die von seinem langjährigen Wegbegleiter Ashley Holt sowie von seiner eigenen Tochter Jemma beigetragen wurden. Der Abwechslung halber finden sich auf dem Album auch Gitarre, Bass und Drums, ebenfalls von einigen Mitgliedern seines "English Rock Ensemble", so dass einige Songs streckenweise richtig gut abrocken.
Für Rick war dieses Projekt sicherlich eines der schwierigsten zu realisieren, vor allem aufgrund des Alters der Instrumente, das dazu führte, dass die "alten Kisten" häufig ziemlich unzuverlässig arbeiteten oder zunächst überhaupt schwierig in Gang zu bringen waren. Manche der Keyboards waren seit rund 30 Jahren nicht mehr benutzt worden. Nach dem Einschalten leuchteten zwar irgendwelche Lampen, aber es wusste niemand mehr, was sie zu bedeuten hatten, abgesehen davon, dass sich überhaupt irgend etwas tat.
Während der Aufnahmen für das Album verbrachte Erik Jordan die meisten Morgen damit, die zu verwendenden Keyboards für den Tag zum Funktionieren zu bringen. Nachmittags wurde dann aufgenommen, und abends mussten die alten Instrumente wieder repariert werden.
Rick redet seinem Mellotron gut zu (die Story dazu dürfte vielleicht bekannt sein):
Viele der Keyboards hatten einen ganz eigenen Willen (was für Rick sicherlich einige Erinnerungen zurückbrachte), und häufig änderten sich plötzlich Sounds, so dass der ursprünglich benötigte Sound am nächsten Tag nicht wiederhergestellt werden konnte. Ganze Kompositionen mussten dem störrischen Verhalten der Vintage-Keyboards angepasst werden.
In den ersten Tagen der Aufnahmesessions stand immer ein Feuerlöscher griffbereit, da etliche der Uralt-Instrumente für eine lange Zeit nicht eingeschaltet gewesen waren und nun, da Strom angelegt wurde, sozusagen "austrockneten" und drohten, innerlich Feuer zu fangen. Rauchentwicklung war nicht ungewöhnlich. Der Titel "Can You Smell Burning?" kommt somit also nicht von ungefähr.
Findet ihr nicht auch, dass es brenzlig riecht ?
Das einzige Zugeständnis an die moderne Technik war, dass das Album auf Festplatte aufgenommen wurde.
Nach drei Monaten war "RETRO" dann fertig, und da der Entstehungsprozess doch recht zeitaufwändig, arbeitsintensiv und schwierig war, schloss Rick aus, dass es einen zweiten Teil geben würde. Doch man soll niemals nie sagen... in 2007 erschien "RETRO 2".
Das Album ist nicht nur ein Muss für Rick Wakeman-Fans, sondern auch für Fans des "klassischen" analogen Synthesizer- und Keyboard-Sounds der 70er Jahre.
Rick mit dem fertigen Produkt, offenbar hocherfreut:
Tracklist:
1. Just Another Day (11:14)
2. Mr. Lonely (3:47)
3. One In The Eye (5:32)
4. Men In Suits (8:05)
5. Leave The Blindfold (3:02)
6. Waveform (6:01)
7. Retrospective (6:35)
8. Homage To The Doctor (9:04)
9. Can You Smell Burning? (6:30)
10. The Stalker (8:45)
Total Time: 69:01
Musiker:
Keyboards: Rick Wakeman
Acoustic and Electric Guitars: Dave Colquhoun
Bass: Lee Pomeroy
Drums and Percussion: Tony Fernandez
Vocals: Ashley Holt
Vocals and Backing Vocals: Jemma Wakeman
Verwendete Instrumente:
Hammond M102, Leslie Cabinet, Korg MonoPoly, Moog Polymoog, Minimoog, Sequential Circuits Prophet 5, RMI Electra Piano, Mellotron M400, Korg Electric Piano ES50, Korg Trident, Korg Sigma, Korg Vocoder, Moog Taurus Pedals, Moog Taurus Pedals II + Controller, Cry Baby Wah Wah Pedal.
Die Songs:
Just Another Day
Das Stück beginnt mit einem nostalgischen Oszillator- und Modulator-Grummeln und Fiepen (Frage an die Experten: Können moderne, digitale Keyboards sowas eigentlich noch, oder gibt´s diese Sounds heute nicht mehr?) und geht in einen ruhigen, melodischen Anfangsteil mit den ersten Vocals von Ashley Holt über, um dann in ein fingerfertiges, abwechslungsreiches, ausgiebiges Synthie-Solo von Rick zu münden, schön untermalt vom Mellotron und dem prägnanten Drumming von Tony Fernandez, nach dem Ashley Holt kraftvoll erneut einsteigt. Danach gibt es einen, wie ich finde, sehr stimmungsvollen, ruhigen Mellotron-Chor-Teil mit leicht melancholischem Touch, und der Song endet mit der Anfangs-Melodie, die wiederaufgegriffen und variiert wird, so auch durch markantes Schlagzeugspiel. "Just Another Day" ist eines meiner Lieblingsstücke vom Album.
Mr. Lonely
Das Stück ist anders als alles, was Rick zuvor gemacht hat. Ein im doppelten Wortsinn schräger, rockiger Song mit schrägem Text, den Rick mit Vocoder-verfremdeter Stimme zum Besten gibt (was zu einem latent aggressiven Unterton führt) und bei dem er die verschiedenen, zur Verfügung stehenden Moogs nutzt. Ein nicht ganz ernst zu nehmendes Lied, das bald zu meinen geheimen Favoriten von "RETRO" wurde.
One In The Eye
Ein lebhaftes, fröhliches Instrumentalstück mit einer recht simplen, aber einprägsamen Eingangsmelodie, die hier und da vom Mellotron dezent untermalt wird. Im weiteren Verlauf des Songs variiert Rick die Grundmelodie immer wieder, und das Mellotron unterstützt die Melodie im Hintergrund sehr schön und songdienlich. Für mich ein typischer "Gute Laune-Song".
Men In Suits
Der Song beginnt gleich mit viel Mellotron-Streicher-Einsatz, im Gegensatz zum vorherigen Stück sorgt hier das Keyboard für die Untermalung. Ruhige, leicht nachdenklich klingende, wiederum von Ashley Holt gesungene Zeilen gehen über in ein etwas lebhafteres Solo von Rick, dem sich erneut Gesang anschließt und dem ein weiteres Solo folgt. Die ganze Zeit über bringt Rick das Mellotron sehr gut ein und lässt diesem Instrument, vor allem gegen Ende, viel Raum.
Leave The Blindfold
Ein nettes, kleines, unspektakuläres Liedchen, gesungen von Ricks Tochter Jemma. Die Melodie ist nichts Herausragendes, witzig finde ich jedoch die winzigen Momente, die nach Computerspiel klingen, und Ricks verschmitztes Pfeifen am Schluss.
Waveform
Wie der Titel schon andeutet, führt uns Rick hier durch verschiedene musikalische Möglichkeiten des Moog-Synthesizers, hier Minimoog und Polymoog, unterstützt durch Hammond-Orgel und Mellotron. Das Instrumentalstück gliedert sich in lebhaftere und ruhigere Passagen, um mittendrin das quäksige Anfangsthema wiederaufzugreifen, das sich gegen Ende hektisch steigert, um in einem ruhigen Schlussteil zu enden.
Retrospective
Erneut liefert Rick hier eine sehr schöne Mellotron-Arbeit mit einer ansprechenden Melodie, die in den Song einführt. Leicht melancholischer Gesang von Ashley Holt folgt. Mir gefällt das Lied sehr gut, sowohl von der Melodie als auch vom Gesang (neben Ashley auch Jemma) her. Alles fügt sich harmonisch zusammen. Rick streut hübsche Synthi-Soli und immer wieder das Mellotron ein, das zwischendurch melodieführend im Vordergrund agiert und mit welchem der Song auch ausklingt. Ein schönes, ruhiges, aber unterhaltsam-abwechslungsreiches Stück.
Homage To The Doctor
Während der Produktionsphase des Albums verstarb Dr. Bob Moog, der Erfinder des gleichnamigen Synthesizers, der in den 60er Jahren begann, die Musikwelt für immer zu revolutionieren. Aus diesem traurigen Anlass heraus schrieb Rick kurzerhand ein weiteres, nicht geplantes, zehntes Stück in Gedenken an den genialen Erfinder. Traurig ist dieser Song jedoch absolut nicht, ganz im Gegenteil. Es ist ein fröhliches, munteres und positives Lied, sowohl von der Melodie als auch vom Gesang her. Ein Lied, wie es Bob Moog sicherlich gefallen hätte. Natürlich schwelgt Rick hier ausgiebig in einem langen Moog-Solo, das einen durch alle musikalischen Höhen und Tiefen führt und das einfach Spaß macht, anzuhören. Besonders nett ist der Schluss, bei dem Rick noch mal so richtig abrockt. Definitiv eines meiner Lieblingslieder von dem Album.
Can You Smell Burning?
Der Titel bezieht sich augenzwinkernd auf die gelegentliche Rauchentwicklung bei manchen der Uralt-Keyboards nach der ersten Inbetriebnahme nach Jahrzehnten und darauf, dass die Frage, ob hier etwas brenzlig rieche, sich während der Aufnahmephase öfters mal wiederholte. Meiner Meinung nach ist "Can You Smell Burning?" eins von Ricks kompositorisch genialsten Stücken. Es beginnt mit einer kleinen, hektischen Hammond-Einleitung, bevor Drumming und E-Gitarre einsetzen und das Stück vorantreiben. Es ist komplett instrumental, und Rick legt das Hauptaugenmerk auf die Hammond-Orgel, die er hier mehrfach meisterlich zum Einsatz bringt und der er ein langes, abwechslungsreiches, mitreißendes Solo widmet. Nach dem Solo greift Rick seine Hammond-Hauptmelodie wieder auf und lässt sie bei ca. 5:20 in ein musikalisches Feuerwerk kulminieren (ich liebe diese Stelle, ebenso die bei ca. 2:08). Danach greift der Moog in das Stück ein, und Rick liefert ein kurzes, knackiges Solo, woraufhin der Song dann recht abrupt endet. Wow! So einen genialen, mitreißenden Hammond-Einsatz habe ich bei Rick zuvor noch nie gehört. "Can You Smell Burning" verdient die Höchstwertung. Mein absoluter Lieblingssong vom Album.
The Stalker
Vom Text her ein eher nachdenkliches Stück von Rick. Nach einem erst bedächtigen, dann lebhafteren Auftakt beginnt der Gesang, wiederum eher etwas getragen, von Ashley Holt jedoch überzeugend rübergebracht. In der zweiten Hälfte des recht langen Stückes dominieren kleine Soli, bevor die Anfangsmelodie wieder aufgegriffen wird und dank Gitarre und treibender Drums anfängt zu rocken. Der rockige Moment währt jedoch nur kurz, da der Song dann auch gleich zu Ende ist.
Fazit:
Ein, wie ich finde, rundum gelungenes Vintage-Album, das vielleicht keine herausragenden musikalischen Leistungen und Kompositionen aufzeigt, aber genügend musikalische Momente hat, die Spaß machen und das Album damit zu einem Hörgenuss der besonderen Sorte werden lassen. Rick zeigt einmal mehr, dass er, nicht nur was sein Talent und seine flinken Finger angeht, seit Jahrzehnten zu den besten Keyboardern gehört, sondern er zeigt auch eindrucksvoll sein Verständnis der Vintage-Keyboards und was man musikalisch aus ihnen herausholen kann – und er zeigt, warum Wakey und Moog einfach zusammengehören. Und warum das "Plastikgedudel" von heute gegen echten Vintage-Synthesizer-Sound keine Chance hat.
Für mich ist das Album eine unbedingte Kaufempfehlung, und als Keyboard- und Wakeman-Fan kann man damit nichts falsch machen.
Puh, das war mein allererstes Review. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dran gesessen habe. Die Idee hatte ich schon vor Monaten (wie man an den Illustrationen erkennen kann ). Im Laufe der letzten Wochen hatte ich endlich genügend Zeit und Muße, sie in die Tat umzusetzen .
Ich hoffe, es hat euch gefallen und ich konnte euch damit einen Eindruck von einem meiner Lieblings-Alben von Rick vermitteln .
MelloKey [smilie=hello.gif]
Yeaaah, mein Beitrag Nr. 1000...!
Rick und Dr. Bob Moog: